7. April 2021

Nicht länger unsichtbar

Von nst5

Jahrzehntelang kamen Migranten nur zum Arbeiten. Doch wer in einer Gesellschaft lebt, sollte sie auch mitgestalten können.

Wie so oft war es das Theater, das noch vor der Wissenschaft und Politik wahrnahm, welche gesellschaftliche Veränderung sich abzeichnete: 2008 eröffnete Shermin Langhoff das Ballhaus Naunynstraße im Berliner Stadtteil Kreuzberg und erklärte, dort solle „postmigrantisches Theater“ stattfinden.
Deutschland – wie auf je eigene Weise auch Österreich und die Schweiz – hatte da gerade zaghaft akzeptiert, Einwanderungsland zu sein, es also als normal anzusehen, dass Menschen kommen, um zu bleiben. Es wurde intensiv darum gerungen, wie das Zusammenleben von „Einheimischen“ und Zugewanderten aussehen könne. Immer wieder versuchten Wissenschaftler und Politiker, eine Leitkultur, also Werte, Traditionen und Regeln, zu definieren, der alle verpflichtet seien, die hier leben wollen. Dies geschah mal in konstruktiver Form, häufig aber populistisch und ausgrenzend.
In dieser Gemengelage nahmen die Leute vom postmigrantischen Theater – überwiegend Einwanderer der zweiten oder dritten Generation – für sich in Anspruch mitzubestimmen, was Deutsch ist.
Postmigrantisch bedeutet so viel wie nach der Migration. Postmigranten sind Menschen, die entweder in Deutschland 1 geboren oder als Kinder eingewandert sind. Sie haben meist die deutsche Staatsbürgerschaft. Dennoch werden sie häufig als „nicht-deutsch“ wahrgenommen und auf ihre ursprüngliche Herkunft reduziert.
Die Macher des postmigrantischen Theaters wollten sich nicht mehr nur von anderen sagen lassen, wer sie sind, in welchem Land sie leben und wie sie sich verhalten sollen. Sie wollten festgefügte Vorstellungen in Frage stellen und eigene Geschichten von ihrem Deutschland erzählen.

Illustrationen: (c) Page Light Studios (iStock)

In ihrem Buch „Die postmigrantische Gesellschaft“ sagt die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan, zentrale Versprechen der pluralen Demokratie seien, Vielfalt zu ermöglichen und Gleichheit zu fördern. Mit Blick auf Migration seien diese Versprechen nur zum Teil eingelöst. Obwohl mehr als 20 Prozent der Bevölkerung Deutschlands einen Migrationshintergrund aufweist, haben nur zwei Prozent der Journalisten, vier Prozent der Stadträte, sechs Prozent der Lehrer und Bundestagsabgeordneten sowie zehn Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst eine Migrationsgeschichte.
Das Anliegen, mitgestalten zu dürfen, ist Ergebnis eines langen Prozesses. Ein kurzer Blick zurück: Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg brauchten Deutschland, Österreich und die Schweiz Arbeitskräfte. Und so warb man „Gastarbeiter“ an – zunächst vor allem Männer ohne ihre Familien. Sie sollten möglichst bald wieder in ihre Heimatländer zurück und bei Bedarf durch neue ausländische Arbeitskräfte ersetzt werden. Es war ausdrücklich nicht erwünscht, dass sie bei uns heimisch wurden. Sie sollten arbeiten, aber am besten unsichtbar bleiben. Tatsächlich kehrten von den 14 Millionen „Gastarbeitern“, die zwischen 1955 und 1973 allein nach Westdeutschland kamen, elf Millionen wieder zurück.
Nach dem „Anwerbestopp“ während der Ölkrise in den 1970-er Jahren hingegen entschieden viele zu bleiben und holten in der Folge ihre Familien nach. Spätestens seit den 1980-er Jahren ist auf Dauer angelegte Einwanderung eine Tatsache. Regierungen und große Teile der Gesellschaft taten sich lange schwer, Deutschland, Österreich oder die Schweiz als Einwanderungsland zu bezeichnen. Damit haben wir weder uns noch den Migranten einen Gefallen getan. Weil wir mit der neuen Situation und ihren Herausforderungen oft nicht kreativ umgegangen sind, konnte sich die Wahrnehmung durchsetzen, dass Migration vor allem ein Problem sei.
Manchmal scheint es, als habe sich daran bis heute nichts geändert. Aber das stimmt nicht. „Wir leben mit Vielfalt, und wir leben gut damit“, sagt unser Interviewpartner Erol Yildiz von der Universität Innsbruck. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani meint sogar, dass es Deutschland mit Blick auf die Migration noch nie so gut ging wie heute. Konflikte entstünden nicht, weil die Integration fehlschlage, sondern weil sie zunehmend gelänge: Solange die Migranten „unsichtbar“ waren, gab es wenige Konflikte. Jetzt wollen sie mitreden, was natürlich zu Auseinandersetzungen führt.

Illustrationen: (c) Page Light Studios (iStock)

Erol Yildiz beobachtet, dass bei den meisten gesellschaftlichen Fragen nicht Migranten auf der einen und Nicht-Migranten auf der anderen Seite stehen. Integration entscheide sich an der Frage, ob ein Mensch ein gesichertes Auskommen, eine gute Bildung und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe hat, egal ob Migrant oder Inicht.
Diese Veränderungsprozesse sind nicht unumstritten. Anzuerkennen, dass sich Identitäten im Wandel befinden, dass nicht ein für alle Mal festgelegt ist, was es heißt, Deutsch zu sein, Österreichisch oder Schweizerisch, dass Migranten sich als Bürgerinnen und Bürger unserer Länder sehen, die mitentscheiden wollen, macht so manchem Angst. Die hohe Zahl an Flüchtlingen, die in den vergangenen fünf Jahren zu uns gekommen sind, hat das noch verschärft. Uneinigkeit über Migrations- und Flüchtlingspolitik kann zu einer erheblichen Verschlechterung des gesellschaftlichen Klimas führen.
Deshalb ist es so wichtig, gemeinsam um die richtigen Wege zu ringen – und zwar mit den Zugewanderten. Was hält unsere Gesellschaft zusammen? 2017 hat eine Gruppe von Wissenschaftlern und Politikern folgende Gemeinsamkeiten als unverzichtbar benannt:

  • die Anerkennung der rechtlichen Ordnung;
  • die Akzeptanz des Sozialstaats als Garant für soziale Gerechtigkeit;
  • die Bereitschaft möglichst vieler, sich an der Demokratie zu beteiligen;
  • den Respekt gegenüber dem Anderen in seiner oder ihrer Andersartigkeit.

Zurück zum Theater: Seit 2013 leitet Shermin Langhoff das Maxim Gorki Theater Berlin. Es versteht sich als ein Ort, an dem Begriffe wie Nation, Identität und Zughörigkeit hinterfragt werden. Den Begriff „postmigrantisches Theater“ verwendet Langhoff übrigens nicht mehr. „Heute sprechen wir am Gorki eher von neuem deutschem Theater – ganz einfach“, sagte sie 2019 in einem Interview.
Vielleicht ist das Theater ja wieder einen Schritt voraus. Auf jeden Fall zeigt es uns, dass gute Wege immer in die Zukunft führen. Ein Zurück in eine (vermeintlich) einfachere Vergangenheit gibt es nicht.
Peter Forst

1 Im Folgenden ist immer wieder nur von Deutschland die Rede. Das geschieht, weil der Begriff „postmigrantisch“ dort zuerst verwendet und diskutiert wurde. Das Thema betrifft jedoch in sehr ähnlicher Weise auch die Schweiz und Österreich.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2021)
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