7. April 2021

Wir leben gut mit der Vielfalt

Von nst5

Für ein gutes Zusammenleben sei es nicht besonders hilfreich, zwischen Migranten und Nicht-Migranten zu unterscheiden, meint der Innsbrucker Pädagogik-Professor Erol Yildiz.

Da würden künstlich Gruppen geschaffen, die es in der Wirklichkeit so gar nicht gibt.

Herr Yildiz, ich möchte mit Ihnen über das Zusammenleben in einer Gesellschaft sprechen, in der Migration 1 eine allgemein anerkannte Tatsache ist. Sie sprechen von einer postmigrantischen Gesellschaft. Können Sie das erläutern?
Oh ja, dieser Begriff braucht tatsächlich eine Erklärung. 2015 wollte ich ein Buch veröffentlichen, in dessen Titel das Wort postmigrantisch vorkommen sollte. Der Verlag hat das abgelehnt, weil die Leute denken könnten, es gehe um Migranten, die bei der Post arbeiten …

Das ist ja lustig! Was ist denn wirklich gemeint?
Der Begriff postmigrantisch beschreibt eine ganze Reihe von Entwicklungen in unserer vielfältigen Gesellschaft. Mir sind drei besonders wichtig. Eine betrifft eher die Geschichte, eine zweite die Gegenwart und die dritte eine auf Zukunft ausgerichtete Sicht auf die Migration.
Was postmigrantisch hingegen nicht meint ist, dass die Migration zu Ende sei. Migration gab es immer und wird es immer geben.

Fangen wir mit der Geschichte an.
Vielleicht hilft der Vergleich mit dem Begriff postkolonial: Während der Kolonialzeit wurde die Geschichte nur von den Kolonialherren, also den Herrschenden, erzählt. Erst danach konnte auch die Perspektive der Kolonialisierten Platz finden.
Etwas Vergleichbares gilt für die Migration. Lange Zeit wurde die Geschichte der Migration nur von den „Einheimischen“ geschrieben. Heute, in einer postmigrantischen Gesellschaft, kommen auch die Migranten selbst zu Wort. So wird die Migrationsgeschichte neu erzählt und es kommen Aspekte ans Licht, die bisher unsichtbar geblieben sind.

Zum Beispiel?
Die sogenannten Gastarbeiter waren schon in den sechziger Jahren Pioniere der Transnationalisierung, also einer sozialen Zugehörigkeit zu zwei Ländern. Sie waren wirklich mobil. Heute ist Mobilität einfach geworden. Damals war das nicht so. Sie haben unter sehr schwierigen Bedingungen hier gelebt, gearbeitet und versucht, die Verbindung zur Familie im Heimatland zu pflegen. Das war eine kreative Leistung. Man hat das aber nicht so erzählt. Denn man hatte immer das Bild der minderbemittelten Migranten im Kopf.

Was kennzeichnet den postmigrantischen Blick auf die Gegenwart?
Die Enkel und die Urenkel der Gastarbeiter bezeichne ich als die postmigrantische Generation. Sie sind seit Langem heimisch hier, werden aber immer noch mit der Frage konfrontiert, ob sie nun dazugehören oder nicht. Viele von ihnen gehen sehr kreativ mit dieser Situation um. Sie spielen mit den Klischees und brechen sie ironisch. Sie gehen viel offensiver mit ihrer Situation um als ihre Großeltern.

Haben Sie auch hier ein Beispiel?
Vor mehr als 20 Jahren schon gründeten Tunay Önder und Imad Mustafa in München den „Migrantenstadl“, eine Internetplattform. Sie stellen sich augenzwinkernd und gleichzeitig sehr ernst vor als Blog mit provokativen, subjektiven und politischen Ansichten und Geschichten aus dem Migrantenmilieu. Sie wollen das in die Mitte rücken, was sonst am Rand bleibt: „Wir sind die Stimme mitten aus der Peripherie.“

Und nun zur Zukunft.
Ich glaube, dass es für ein gutes Zusammenleben in aller Regel nicht besonders hilfreich ist, zwischen Migranten und Nicht-Migranten zu unterscheiden. Da werden künstlich Gruppen geschaffen, die es in der Wirklichkeit so gar nicht gibt.

Das müssen Sie erklären.
Gerne. Zum einen ist die Frage, wer gehört zu den Migranten und wer nicht? Wenn wir nur lang genug zurückgehen, sind wir alle Migranten. Zum zweiten ist die Vielfalt unter denen, die wir als Menschen mit Migrationshintergrund bezeichnen, genauso groß wie die unter den sogenannten Einheimischen: Es gibt arme und reiche, es gibt erfolgreiche und gescheiterte, es gibt gut integrierte und schlecht integrierte. Und drittens verbindet man Migration sofort mit Problemen. Die gibt es natürlich. Aber vor allem gilt: Wir leben mit Vielfalt und wir leben gut damit.

Dennoch erfahren Migranten immer wieder Benachteiligung.
Das stimmt natürlich. Da gibt es unzählige Beispiele – im alltäglichen Leben und auf der strukturellen Ebene. Aber auch hier gilt: Diskriminierung betrifft nicht nur Migranten. Eine Studie von 2018 zeigt beispielsweise erstaunliche Parallelen in der Diskriminierung von Muslimen und Ostdeutschen in Deutschland auf.

Auch um die Repräsentation von Migranten in vielen gesellschaftlichen Bereichen steht es nicht gut. In der Politik, der Wirtschaft, den Medien sind sie weit weniger vertreten, als sie es ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend sein müssten.
Oh ja. Oder schauen Sie sich viele Lehrerzimmer an. Hier sind „Weiße“ unter sich, während die Schülerinnen und Schüler die ganze Buntheit der Gesellschaft widerspiegeln.
Vielleicht ist an der einen oder anderen Stelle ein Eingreifen nötig, vielleicht brauchen wir hier und da „positive Diskriminierung“, also die Bevorzugung von Minderheiten, oder auch Quoten.

Der Soziologe Aladin El-Mafaalani spricht vom Integrationsparadox: Gelungene Integration führe zu neuen Konflikten.
Solange Migranten unsichtbar waren, unauffällig ihre Arbeit getan haben und ihre Moscheen im Hinterhof waren, gab es bestimmte Konflikte nicht. Inzwischen sind sie – und auch ihre Gebetshäuser – sichtbar. Sie wollen mitreden und mitentscheiden und streben sogar Führungspositionen an. Bildlich gesprochen sitzen mehr Menschen an dem Tisch, an dem Entscheidungen getroffen werden. Das führt natürlich zu Konflikten, was in einer Demokratie aber normal ist.
Erlauben Sie mir dennoch, dass ich darauf beharre, dass es um die ganze Gesellschaft geht, nicht nur um die Migranten. Wir brauchen eine andere Art des Sehens.

Was meinen Sie damit?
Wir sollten auf die Menschen schauen, die da sind – als Menschen. Wie oft passiert es mir, wenn ich in eine Schulklasse komme, dass der Lehrer oder die Lehrerin – manchmal fast mit Stolz – sagt: „In dieser Klasse gibt es 15 Nationalitäten.“ Vielleicht wäre es besser, als Erstes zu sagen: „In dieser Klasse sind 25 Kinder.“ Sie sind unterschiedlich, haben unterschiedliche Erfahrungen und Sorgen. Und natürlich haben einige einen anderen kulturellen Hintergrund, aber das muss man nicht von vornherein hervorheben und sichtbar machen.
Das Gleiche gilt für die größeren Ebenen – für eine Stadt oder ein Land.

Inwiefern? 
Auch für die Stadt gilt: Eine Stadt besteht aus den Menschen, die da sind. Punkt. Aufgabe der Politik ist es, alle einzubeziehen, viele Anregungen zu sammeln, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Wie wollen wir miteinander leben? Jede und jeder müsste Ideen einbringen können.
Da gibt es viel zu tun. Die Möglichkeiten der Teilhabe sind sehr unterschiedlich! Manche Unterschiede sind rechtlicher Natur: Wenn etwa Menschen nicht wählen dürfen, obwohl sie schon Jahrzehnte hier leben. Aber die meisten Unterschiede haben mit den Lebensumständen zu tun: Wer kämpfen muss, um finanziell über die Runden zu kommen, wird wenig Zeit und Muße haben, sich gesellschaftlich zu engagieren.
Das verstehe ich unter Teilhabe, unter Integration. Auch Integration ist nicht in erster Linie etwas, das Migranten betrifft.

Aha!
In meinem Verständnis gilt ein Mensch als integriert, wenn er angemessenen Zugang zu gewissen Ressourcen hat, wie etwa materielles Auskommen, Bildung, soziale Teilhabe – egal, ob Migrant oder nicht. Wenn jemand diesen Zugang nicht hat, ist ihm die umfassende Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen Leben nicht möglich: Er ist nicht integriert!

Was könnte man da tun?
Etwas herausfordernd gesagt: Mit einer guten Bildungs- und Sozialpolitik wäre das Wichtigste getan. Gute Sozialpolitik zielt auf gleiche Lebensbedingungen, gleiche Ausgangschancen. Gute Bildungspolitik möchte allen Kindern eine gute Ausbildung und damit eine gute Zukunft ermöglichen.
Als Pädagoge liegt mir die Bildung sehr am Herzen. Wie kann es sein, dass in Schweden um die 80 Prozent aller türkischstämmigen Kinder das Abitur machen und in Deutschland nur etwa 30 Prozent. Woran liegt das? An der Kultur kann es jedenfalls nicht liegen. Das sind strukturelle Fragen. Wenn Kinder Möglichkeiten haben, dann nutzen sie sie auch!

Herzlichen Dank für das Gespräch.
Peter Forst

1 Migration bezeichnet die Wanderung von Menschen, Menschengruppen, Völkern oder Volksgruppen innerhalb eines Landes (Binnenmigration) oder aus einem Land (Emigration) in ein anderes Land (Immigration).

Foto: privat

Erol Yildiz,
geboren 1960 in Samsun (Türkei), hat in Köln Philosophie, Pädagogik und Soziologie studiert. Nach Stationen in Köln, Hamburg und Klagenfurt ist er seit 2014 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Migration und Bildung“ am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck. Er ist Mitglied im „Rat für Migration“, Berlin, und Vorsitzender der Jury „Preis der Vielfalt“ der Stadt Innsbruck.


(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2021)
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