18. Mai 2021

Einfach nur Mensch sein

Von nst5

Mit Leidenschaft wirbt die Pädagogin Marina Weisband dafür,

dass jüdisches Leben und jüdische Kultur als schlichte Selbstverständlichkeit behandelt werden. Sonst bleibe „Einfach nur Mensch sein“ unerreichbar für diejenigen, die allein aufgrund ihrer Geburt um einen Platz in der Welt kämpfen müssen.

Frau Weisband, Sie sind in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland gekommen. Was hat Ihre Familie zur Auswanderung bewogen?
In der Ukraine hieß ich Onufriyenko. Meine Familie hat damals mit Absicht den jüdischen Namen Weisband nicht tragen wollen, wegen der Nachteile, die er bedeutete. Mein Opa, der den Holocaust überlebt hat, las sein ganzes Leben lang sehr genau alle Zeitungen und verfolgte angespannt die Stimmung im Land. 1993 sagte er: „Wir müssen gehen. Jetzt.“

Damals waren Sie sechs Jahre alt. Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich hatte Angst vor einem unbekannten Land. Mein Vater nahm mich in den Arm und tröstete mich. Er sagte: „Keine Sorge. In Deutschland interessiert es niemanden, dass wir Juden sind. In Deutschland können wir einfach nur Menschen sein.“

Ist es wirklich so?
Wir zogen nach Deutschland. Wir nahmen den Namen Weisband wieder an. Wie mein Großvater in der Ukraine lese ich nun hier aufmerksam die Zeitung und beobachte die Stimmung im Land. Und ich lerne, dass der Traum vom „einfach nur Mensch sein“ Arbeit bedeutet.
Ich gehöre zu einer Generation von jungen Jüdinnen und Juden, die ganz verschieden sind. Aber viele von uns machten lange Suchen nach Identität durch. Viele von uns setzen mühsam Scherben zusammen von dem, was einst Kultur war. Zugehörigkeit. Und Normalität. Meine Geschichte ist für diese Generation nicht ungewöhnlich: Mehr als 90 Prozent aller jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland entstammen dem postsowjetischen Raum.

Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Ankunft in Deutschland?
Als ich hierherkam, habe ich mit diesem Land sehr positive Erfahrungen gemacht. Wir erhielten Hilfe. Uns wurde die Sprache beigebracht. Das Gefühl, willkommen zu sein, ist bei mir geblieben. Es hat mich später dazu inspiriert, dieser Gesellschaft etwas zurückgeben zu wollen. Als sie mich dann noch eingebürgert hat, bin ich in eine Partei eingetreten. Ich hatte das Gefühl, diese Gesellschaft geht mich etwas an. Ich bin Teil von ihr.

Aber das ist nicht alles, oder?
Das stimmt. Gleichzeitig bleibe ich zum Teil fremd. Während des Studiums begann es mit verwunderten Ausrufen, die mich eher fühlen ließen wie ein Zootier: „Du bist die erste Jüdin, der ich begegne.“ Da war oft diese Mischung aus Mitgefühl und Beklemmung. Wir Juden waren diese Fabelwesen, über die man schreckliche Dinge gelernt hat in Geschichtsbüchern, die prinzipiell nur schwarzweiß waren.
Teil einer kleinen Minderheit zu sein, bedeutet immer, alle zu repräsentieren und von allen repräsentiert zu sein. Ob man will oder nicht. Ich muss mich rechtfertigen für israelische Politik, für religiöse Bräuche, für angebliche überproportionale Sichtbarkeit und verdächtige Unsichtbarkeit der Juden.

Könnten Sie etwas mehr zur Unsichtbarkeit sagen?
Wir haben nicht selbst gewählt, unsichtbar zu sein. Ich erinnere mich noch daran, wie eine Gruppe junger Menschen in unserer Gemeinde versucht hat, einen jüdischen Stammtisch zu gründen, der bewusst nicht in der Gemeinde stattfinden sollte. Wir wollten vor allem die jüdischen Studentinnen und Studenten dorthin einladen, die mit Religion vielleicht nicht viel anfangen konnten. Als wir aber im Lokalblatt eine Anzeige dafür schalten wollten, riet uns die Polizei nachdrücklich davon ab, etwas zu veröffentlichen, das Zeit und Ort enthielt. Aus Sicherheitsgründen. Deshalb sind wir unsichtbar!
Auch in Deutschland ist es für uns noch immer zu gefährlich, sichtbar zu sein. Wir verschicken unsere Gemeindepost ohne Absenderangabe auf den Briefumschlägen. Wir laufen zum Gebet, ins Gemeindezentrum, in die jüdische Schule und den Kindergarten an bewaffneten Wächtern vorbei. Wir sind dankbar für den Schutz – aber das macht etwas mit einem.

Und zwar?
Jüdin in Deutschland zu sein bedeutet vor allem, durch seine bloße Existenz die Erinnerungen der Shoa und des modernen Antisemitismus, von Schuld und Versöhnung in sich zu tragen. Ich wollte nie eine Expertin in Antisemitismus sein. Ich bin Beteiligungspädagogin! Mein Thema ist Bildung! Trotzdem halte ich bei der Polizei Vorträge zu Antisemitismus, trotzdem drehe ich Aufklärungsvideos, trotzdem werde ich angerufen, wenn irgendwo etwas passiert.
Dass jüdisches Leben hierzulande im Schatten der Shoa steht, bedeutet nicht nur, dass wir mit dem Gedenken leben, was unseren Familien widerfahren ist und mit dem Trauma, das über die Generationen bis zu uns vererbt wurde. Unsere Großeltern waren traumatisiert oder wurden ermordet. Unsere Eltern waren traumatisiert. Unsere Kinder sehen und lernen mit Schrecken, wie selbstverständlich Antisemitismus noch ist.

Wie mögen da Rufe nach einem Schlussstrich des Gedenken an die Shoa in Ihren Ohren klingen?
Es ist äußerst schmerzhaft für mich, wenn über einen Schlussstrich gesprochen wird, solange wir keinen ziehen können.
Jüdin in Deutschland zu sein, bedeutet zu verstehen, dass es geschehen ist und folglich wieder geschehen kann. Es bedeutet zu verstehen, dass Antisemitismus nicht da beginnt, wo auf eine Synagoge geschossen wird. Dass die Shoa nicht mit Gaskammern begann. Es beginnt mit Verschwörungserzählungen. Es beginnt mit Tiraden über eine angebliche jüdische Opferrolle. Nur um es mal klar zu sagen: Wir können den Anfängen nicht wehren, weil es ein stetiger Prozess ist. Weil jetzt gerade Waffen gesammelt werden. Weil jetzt gerade rechte Strukturen in der Polizei und beim Militär nicht konsequent aufgedeckt werden. Weil Menschen wie ich jetzt und heute Morddrohungen bekommen.

Was muss sich ändern?
Ich höre sehr oft von Menschen, dass wir die Einteilung in Schubladen lassen sollen – Schwarz und Weiß, Jüdisch oder Nichtjüdisch, Homo oder Hetero. Dass wir einfach nur Menschen sein sollen. Und das ist eine wirklich schöne Vision. Ich will dahin. Aber „einfach nur Mensch sein“ ist ein Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund ihrer Geburt.
„Einfach nur Mensch sein“ geht nicht, solange jüdisches Leben unsichtbar gemacht wird. „Einfach nur Mensch sein“ geht nicht, solange Strukturen von Unterdrückung unsichtbar gemacht werden. Denn jede Unterdrückung – sei es Sexismus, Rassismus, Antisemitismus – lebt davon, dass sie für die Nichtbetroffenen unsichtbar ist. Wenn wir wirklich das Ziel haben, dass es egal sein soll, wie man geboren wurde – dann müssen wir den Finger in diese Wunden legen und wir müssen benennen, wer allein aufgrund seiner Geburt um einen Platz in der Welt kämpfen muss und wer nicht.
Denn sie ist nicht ausgestorben, diese Überzeugung, dass es Menschen gibt, deren Würde mehr wert ist. Dass es Menschen gibt, die in dieser Gesellschaft mehr Platz verdienen als andere. Es ist eine Aufgabe der Solidarität, Seite an Seite mit allen Minderheitengruppen dafür zu kämpfen, wofür die Verfassung dieses Landes steht und was bislang eine Utopie geblieben ist: die Selbstverständlichkeit unseres Zusammenlebens.

Was macht die Besonderheit des Judentums in diesem Zusammenleben aus?
Jüdisches Leben in Deutschland empfinde ich so: ambivalent, voller Gemeinschaft und Solidarität, voller Angst und Frustration.
Wir sind Teil dieser Gesellschaft, und so möchten wir auch wahrgenommen werden. Nicht als Fremde, sondern als Deutsche, die zur Religionsgemeinschaft des Judentums gehören. Aber wir Juden sind auch eine Volksgemeinschaft, allerdings in einem anderen Sinn, als man im deutschen Sprachgebrauch „Volk“ oder „völkisch“ verwendet. Das jüdische Volk versteht sich nicht als eine ethnisch-rassische, sondern als eine Schicksalsgemeinschaft. Das ist vielleicht der rätselhafteste Teil für nichtjüdische Leserinnen und Leser. Weil es schwer ist zu erklären, was das gemeinsame Schicksal aller dieser sehr verschiedenen Menschen ist, die verschiedene Länder bewohnen und deren Geschichten und Einstellungen verschieden sind. Das wichtigste verbindende Element ist: Wir gedenken der Shoa und haben das Glück, noch jenen zuhören zu dürfen, die sie überlebt haben. Aber dies ist die letzte Generation, die das noch kann.

Wie kann es dann weitergehen?
Wir, die Nachkommen, stehen jetzt der Tatsache gegenüber, dass mehr und mehr Augenzeugen von uns gehen. Und dass wir das Gedenken dennoch irgendwie weitertragen, lebendig halten müssen.
Nun sind wir es, die jenen zu antworten haben, die fragen: „Warum müssen wir dieses alte Zeug immer wieder aufrollen?“ Wir sind es, die alle aus der Vergangenheit gezogenen Lehren in eine Zukunft überführen müssen. Wir müssen einen Weg finden, das Gedenken der Shoa weiterzutragen, ohne uns selbst zu einem lebendigen Mahnmal zu reduzieren. Wir sind diejenigen, die unter den Porträts unserer Großeltern und Urgroßeltern eine neue Gesellschaft bauen müssen. Eine, in der vielleicht, irgendwann, eine jüdische Kultur gelebt werden kann und mit einer schlichten Selbstverständlichkeit behandelt wird.
Und dann können wir tatsächlich einfach nur Menschen sein.

Ganz herzlichen Dank, Frau Weisband!
Peter Forst

Dieses Gespräch speist sich zu weiten Teilen aus der Rede von Marina Weisband zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2021 im Deutschen Bundestag. Frau Weisband hat zugestimmt, sie als Interview in dieser Form zu veröffentlichen.

Foto: (c) Markus C. Hurek

Marina Weisband, geboren 1987 in der Ukraine, ist Diplompsychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung. Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland. Heute engagiert sie sich bei den Grünen in den Bereichen Digitalisierung und Bildung. Seit 2014 leitet sie das Projekt aula, ein Konzept zur politischen Bildung und demokratischen Beteiligung von Jugendlichen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen (aula-blog.website).
Am 27. Januar 2021 hielt sie als Vertreterin der jungen jüdischen Generation eine der beiden Reden zum Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2021)
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