18. Mai 2021

Wir leben!

Von nst5

Mit Leidenschaft, Biss und Humor

setzt sich die Autorin Mirna Funk für eine bessere Wahrnehmung jüdischen Lebens ein. Es lohnt sich, ihr zuzuhören.

„Weil man alles über die toten Juden“ weiß, „aber nichts über die lebendigen. Auch deswegen schreibe ich diesen Text. Denn: Wir leben!“ 1
Diese Zeilen stammen aus einem Artikel der Berliner Autorin Mirna Funk für „Die Zeit“ über die junge Generation von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Durchaus provokant. Aber sie treffen ziemlich gut, warum wir diese Ausgabe dem „Jüdischen Leben heute“ widmen. Sie leben! Sie leben hier – in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland. Und zwar seit 1700 Jahren. Seit dem Jahr 321 ist jüdisches Leben im deutschen Sprachraum nachweisbar. Über die Jahrhunderte hinweg war dieses Leben häufig, ja meistens von Diskriminierung, Verfolgung und Vertreibung gekennzeichnet. Dass Jüdinnen und Juden heute noch (oder wieder) hier leben, ist – insbesondere für Deutschland – nach der Shoa alles andere als selbstverständlich. Es sind Überlebende, ihre Kinder, Enkel und auch Urenkel. Zwischen 1991 und 2005 wanderten zahlreiche Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ein, sodass ihre Zahl von 30 000 auf 118 000 stieg. In Österreich sind es 10 000, in der Schweiz 18 500. 2 Auch junge Israelis kommen – vor allem nach Berlin.
Und doch sind Jüdinnen und Juden häufig unsichtbar. „Ich bin noch nie einer Jüdin, einem Juden begegnet.“ Das werden wohl auch viele von Ihnen sagen. Diese Unsichtbarkeit hat ihren Grund nicht nur darin, dass die Juden wenige sind. Erst recht liegt es nicht daran, dass sie unsichtbar sein wollen. Jüdisches Leben wird unsichtbar gemacht, meint unsere Interviewpartnerin Marina Weisband.
Und so droht unterzugehen, wie lebendig und bunt jüdisches Leben heute ist. Wir haben uns entschieden, dass in dieser Ausgabe vor allem Juden selbst schreiben – es sind überwiegend jüdische Frauen geworden.
Auch in diesem einführenden Text soll das so sein. Hier soll die bereits eingangs zitierte Mirna Funk zu Wort kommen, die mit ihrer Tochter in Berlin und Tel Aviv lebt und in ihren Beiträgen für „vogue“ und „Die Zeit“ wunderschöne Worte findet für das Leben ihrer Generation zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; Worte, die für Nicht-Juden oft aufrüttelnd sind. Für mich sind sie es jedenfalls.
„Das Wichtigste wäre doch, wenn endlich die Bevormundung aufhörte“, heißt es in einer ihrer Kolumnen vom September 2018. „Wie wir zu fühlen, zu schreiben, zu denken und zu agieren haben. Wie schön wäre es, wenn Nicht-Juden uns nicht mehr erklärten, warum wir nicht Holocaust sagen dürfen, sondern nur Shoah … Wenn sie einfach aufhörten, Juden das Judentum näherzubringen oder den Holocaust oder jüdisches Leben als solches. Ich erkläre einem Syrer ja auch nicht, wie er den syrischen Bürgerkrieg so finden soll oder einem Schwarzen, wie sich das anfühlt, als einziges schwarzes Kind in einem weißen deutschen Dorf zur Schule zu gehen. Da hält man doch seinen Mund und hört einfach zu.“ 3

Foto: (c) KarpenkovDenis (iStock)

Und schon 2016: „Deutsche und Jüdin zu sein, ist nicht immer einfach. Nicht nur, weil sich das irgendwie auszuschließen scheint, auch weil die meisten Menschen, denen man außerhalb Deutschlands begegnet, darin eine Art Widerspruch sehen. … Mit diesem Gefühl, ein Widerspruch zu sein, leben wir. Manchmal besser, manchmal schlechter. Aber immer bewusst. Und Widersprüche sind eine Quelle der Kreativität.“ 1
Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 schrieb sie: „Seit Tagen liege ich im Bett und frage mich: Was nun? Vor fünf Jahren fiel meine Entscheidung noch eindeutig aus. Ich ging nach Tel Aviv, weil ich den Antisemitismus in Deutschland nicht mehr aushielt. Anderthalb Jahre später kam ich zurück. Auch, weil ich Berlin schrecklich vermisste. Die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Das Dilemma der deutschen Juden: Unendlich viel Leid und Tod hat Deutschland über das europäische Judentum gebracht, und trotzdem nennen wir dieses Land unsere Heimat. Diesen Widerspruch zu leben, ist die meiste Zeit verwirrend und oft genug kaum auszuhalten. Aber am schlimmsten ist, wenn trotz unserer mutigen Wahl Gewalt gegen uns ausgeübt wird.“ 3
Besonders leidenschaftlich wird Mirna Funk, wenn sie über die deutsche Erinnerungskultur schreibt: „Unsere große und wichtige Aufgabe, meine große und wichtige Aufgabe und die aller Zugehörigen der dritten und vierten Generation auf jüdischer wie auch nichtjüdischer Seite ist, Erinnerungskultur so zu gestalten, dass … Erinnern nicht nervt, sondern einen etwas lehrt. Dass Erinnern einen emotional erreicht und nicht emotional zur Abwehr zwingt. Dass Erinnern auch lebensorientiert und nicht ausschließlich leichenbasiert ist. Dass Erinnern Spaß macht, auch wenn es möglicherweise sehr wehtut.
Solange man jüdische Zeitzeugen durch deutsche Schulen peitscht und jedes Kind denkt, da sitzt der letzte Jude Deutschlands vor mir, weil man versäumt, diese Kinder mit jungen, lebenden Juden, ja mit jüdischem Leben, das es sehr wohl in Hülle und Fülle in Deutschland gibt, in Kontakt zu bringen; solange man die Opferbiografien studiert und die Täter stilisiert und so von der eigenen Historie abschneidet; solange man in KZs marschiert, aber niemals eine Klassenfahrt nach Tel Aviv organisiert – solange wird der Versuch, Antisemitismus zu verhindern, scheitern. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus muss komplex sein. Sie muss das Alte mit dem Gegenwärtigen in Verbindung bringen, um so für die Zukunft zu lernen. Sie muss Täter- und Opferbiografien gleichermaßen studieren, um etwas über Zivilcourage zu lernen. Sie muss die transgenerationale Weitergabe von Traumata auf beiden Seiten thematisieren. … Das ist alles nicht super einfach, aber machbar. Wir müssen nur endlich damit beginnen!“1
„Wie sehr würde ich mir ein gemeinsames Erinnern wünschen, zum Beispiel in Form eines gemeinsamen Holocaust-Gedenktages, wie er in Israel stattfindet. Mit einer Schweigeminute im ganzen Land. Wie toll wäre das, wenn in Israel und in Deutschland im selben Moment die Zeit für eine Minute stehen bliebe. Danach darf sie dann auch wieder voranschreiten. Denn wir als dritte Generation wünschen uns eine gemeinsame Zukunft.“ 1
Wir sollten diese Einladung annehmen.

1 „Wir lebenden Juden“ (31.7.2016) und „Erinnern kann auch cool sein“ (26.1.2018) aus: www.zeit.de/autoren/F/Mirna_Funk/index
2 Zahlen nach Sergio DallaPergola (Jewish Virtual Library). Andere Quellen nennen höhere Zahlen.
3 „Weil es einfacher ist, Jude in Amerika zu sein als in Deutschland“ (6.9.2018) und „Was nun?“ (14.10.2019) aus: www.vogue.de/die-redaktion/mirna-funk

Peter Forst

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2021)
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