18. Mai 2021

Wissen und Liebe.

Von nst5

Michaela Rychlá, Frankfurt

Michaela Rychlá wurde 1957 in der Tschechoslowakei in einer Künstlerfamilie geboren. Nach der Emigration machte sie in Deutschland Abitur und studierte in Frankfurt/Main Geschichtswissenschaften und jüdischen Disziplinen. Seit 1995 ist sie Lehrerin für jüdische Religion in Frankfurt/Main, Halle/Saale, München und Regensburg.

Was beim Unterrichten Not tut, ist eine große Liebe zum Fach, ja, persönliche Hingabe. Natürlich geht es um die Vermittlung von Gebeten und Gesetzen, Vorschriften, Festen und Regeln. Aber noch viel mehr um die Formung der jungen Seele: Was ist gut? Was sind die Merkmale des Bösen? Woran erkenne ich die Allmacht G“ttes? Was macht mich stark? Was ist Gerechtigkeit, Respekt, Liebe? Woher komme ich? Wohin soll mein Leben führen?
Zwischen Buchstaben-Lernen und Gebete-Rezitieren, Tora-Geboten und Familienerfahrung ergeben sich oft Fragen aus dem Jetzt und Gleich. Da sind wir Erwachsenen absolut gefordert. Nur echtes Interesse an jedem Kind und Jugendlichen kann uns befähigen, auf heikle Fragen vernünftige Antworten zu geben oder es zumindest zu versuchen. So fragten nach einem Mord in einer jüdischen Schule in Belgien meine Schüler, ob wir denn jetzt auch erschossen werden. Da konnte ich nur sagen, mit G“ttes Hilfe, nein. Nach antisemitischen Attacken gegen drei Mädchen dagegen hieß es, die Täter zur Rede stellen, sodass sie sich entschuldigen und dafür sorgen, dass in die Klasse Normalität zurückkehrt.
Im Unterricht versuchen wir, aus dem Gebetbuch in Hebräisch zu beten, die Feiertage und ihr Brauchtum immer besser zu kennen, die Gebote der Tora immer mehr zu verstehen und die meist dramatische Geschichte des jüdischen Volkes irgendwie zu verkraften. Leider verstummen jetzt die letzten Zeugen der Scho’a. Wie verhindert man, dass diese dunkle Zeit aus dem Kollektivgedächtnis entschwindet?
Mein Versuch einer Antwort: Mut haben, gegen den billigen Strom der Techno-Party im Shopping-Wahn zu schwimmen. Es gibt Dinge, da wird nicht weggewischt und fertig. Nein. Die Opfer der Geschichte, das Unsägliche ist zu kostbar. Es betraf ja fast alle Familien – und ist noch gar nicht lange her!
Wie gut, dass unser Judentum auch so großartige Themen bietet wie die Humanisierung der archaischen Gesellschaft durch die Gesetzgebung! Oder die fantastische Befreiung aus Ägypten – was für ein Wunder, die Freiheit zu erleben! Unsere Kinder kennen keine Sklaverei und Diskriminierung. Möge es so bleiben! Aber der Blick über den Tellerrand zeigt, wie viel Sklaverei es im globalen Raufen um Rendite und Profite gibt. Wachsamkeit im „Sorglostrubel“ der Konsumgesellschaft braucht es Tag für Tag.
Die jüdische Familie ist das Wichtigste, was wir haben. Sie formt und erzieht, gibt Moral und Tradition weiter. Deshalb ist es so wichtig, schon im Schulalter in die künftigen Eltern zu investieren. Wissen und Liebe waren, sind und bleiben die stärksten Waffen. Geborgenheit und Förderung, Erziehung und Formung sind die prägenden Elemente der Zukunft. Was für ein Glück, ein Bat-Mizwa-Mädchen oder einen Bar-Mizwa-Jungen zu haben und die nun durch das Lernen erlangte Gesetzesmündigkeit zu feiern! Der Himmel ist so nah, das Herz ist übervoll von Dankbarkeit…
Auch unsere Familien haben Probleme und die jüdische Welt schwimmt nicht auf Wolke sieben. Weg und Ziel sind es aber, allem zum Trotz entschlossen, treu und wenn möglich gelassen auf dem Lebenspfad von Awraham, unserem Vater, zu gehen, den Himmel vor Augen und den Stern des Königs David im Herzen.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2021)
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