2. Juni 2021

Neue Grundrechte für Europa

Von nst5

Offener Brief an Ferdinand von Schirach


Sehr geehrter Herr von Schirach!

Wir sind es gewohnt, dass Sie uns gewichtige Fragen stellen – wie die in Ihrem Theaterstück “Terror”: Darf man das Leben weniger Menschen opfern, um das von vielen zu retten? Oder in „Gott“, wo Sie die ganze Fernsehnation dazu brachten, sich den Fragen zu stellen: Wem gehört unser Leben? Wer entscheidet über unseren Tod? Obwohl Sie Strafverteidiger sind, geht es Ihnen dabei nicht in erster Linie um die rechtliche Frage, sondern um die ethische.
Auch jetzt haben Sie sich Großes vorgenommen: Sie wollen uns – die Bürgerinnen und Bürger Europas – dazu bewegen, uns damit auseinanderzusetzen: Wie wollen wir in Europa leben? Was ist uns wichtig? Als Vehikel dient dieses Mal kein Theater- oder Fernsehstück. Ein kleines Buch soll eine große europäische Bewegung auslösen. Darin sagen Sie: Auf die größten Herausforderungen unserer Zeit gibt es keine Antwort in den alten Verfassungen. Einfach weil diese Herausforderungen – Klimawandel, digitale Selbstbestimmung, künstliche Intelligenz, Wahrheit als Voraussetzung für funktionierende Demokratie, Ausbeutung in einer globalen Welt – neu sind. Sechs neue Menschenrechte – kurz, prägnant und nachvollziehbar formuliert – sollen deshalb die Charta der Grundrechte der Europäischen Union erweitern. Mit Ihren Vorschlägen hoffen Sie, eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen, die am Ende zu nichts weniger als einem europäischen Verfassungskonvent führt. Dort sollen wir – die Europäerinnen und Europäer – uns diese Grundgesetze selbst geben; nicht die Mitgliedstaaten oder die Europäische Union.
Dahinter steckt eine zutiefst demokratische Grundüberzeugung: Wenn sich genügend Unterstützer finden, werden die Politiker reagieren und diesen Konvent einberufen. Dafür machen Sie mobil und werfen auch Ihre Bekanntheit und Ihre medialen Möglichkeiten in die Waagschale. Namhafte Unterstützerinnen und Unterstützer gibt es aus Politik, Gesellschaft, Kultur – auch aus anderen europäischen Ländern, wie in Österreich von dem Wiener Menschenrechtsexperten Manfred Nowak.
Trotz aller Faszination möchte man fragen: Gerade jetzt? In einer Zeit, in der die europäische Idee so sehr auf dem Prüfstand steht, wie wohl selten zuvor? Gerade jetzt, wo sich scheinbar immer mehr Menschen vom demokratischen Grundgedanken distanzieren?
„Gerade jetzt!“, zeigen Sie sich überzeugt. „Wenn die Grundrechte Wirklichkeit werden, wird sichtbar, dass wir – jeder Mensch – die EU selbst gestalten kann.“ Damit, so meinen Sie, kann das europäische Projekt wieder näher zu den Menschen rücken. Ihre Überzeugung stützt sich nicht zuletzt darauf, dass Artikel 6 festschreibt, dass jeder diese Grundrechte einklagen kann. Das wäre eine Neuheit; die EU-Grundrechte-Charta hatte auf die Einführung einer direkten Grundrechtsklage verzichtet.
„Jeder Mensch“ kann Europa verändern. Ihre Artikel sind eine Einladung an uns alle, an „jeden Menschen“. Nun liegt der Ball bei uns. Inwieweit wir ihn aufgreifen und wie wir ihn weiterspielen, haben Sie nicht mehr in der Hand.  Wichtig ist Ihnen wohl vor allem, dass diese Debatte eröffnet wird. Dass wir alle darüber nachdenken, wie es mit der europäischen Idee weitergeht. Und das verdient Respekt und Anerkennung. Egal, welche und wie viele Grundrechte dann letztlich wie formuliert werden.
Dass dieses Ansinnen Erfolg hat und Europa den Menschen wieder näherkommt, wünschen wir Ihnen und uns.
Mit freundlichen Grüßen,

Gabi Ballweg,
Redaktion NEUE STADT

Ferdinand von Schirach, Berlin Juni 2015
Foto: Michael Mann/ (c) Ferdinand von Schirach

Ferdinand von Schirach,
56, hat als Strafverteidiger zahlreiche große Prozesse bestritten. 2009 veröffentlichte er mit „Verbrechen“ seinen ersten Erzählband. Es folgten weitere Bestseller, Theaterstücke, Drehbücher und Essays.
Am 13. April erschien sein rund 30-seitiger Band „Jeder Mensch“. Darin formuliert er sechs Artikel zur Erweiterung der EU-Grundrechte-Charta:

Jeder Mensch hat das Recht,
… in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.
auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.
dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.
dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.“
www.jeder-mensch.eu

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2021)
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