2. Juni 2021

Selbst den ersten Schritt tun

Von nst5

Andreas Dörrer aus Wiener Neudorf ist 18

und will die Welt nicht lassen, wie sie ist. Mit anderen Jugendlichen engagiert er sich für mehr Menschlichkeit.

Sie sitzen vor ihren Bildschirmen, vor Laptops, Fernsehern, Tablets, Smartphones: Über 130 Jugendliche zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Dazu eine Reihe von Erwachsenen, die Gruppen begleiten, Technik managen, mitorganisieren, übersetzen. Verstreut zwischen Hamburg und Augsburg, Linz und Lugano. Von Gründonnerstag Abend bis Ostermontag Mittag täglich mehrere Stunden, nur Ostersonntag ist Pause. Allein oder zu mehreren, sofern es die Einschränkungen in der Corona-Pandemie zulassen. Sie sind Teil eines Online-Treffens mit einem abwechslungsreichen Programm, das einige von ihnen fast ein Jahr lang vorbereitet haben. Mit dem Titel „Open Minds – Open Doors“ machen die Mädchen und Jungen klar, dass es bei ihrem Kongress um Aufgeschlossenheit geht, um einen offenen Geist und offene Türen. Sie sprechen über anspruchsvolle Themen, spielen miteinander, beteiligen sich an Workshops, tanzen zwischendurch wild zu den Songs ihrer Band und beten dann wieder ganz konzentriert und gesammelt.

Andreas Dörrer
Alle Fotos: privat

Andreas Dörrer, 18, ist von seinem Heimatort Wiener Neudorf zu seinem Freund Emil Pühringer nach Treffling bei Linz gefahren, um den Kongress mit ihm zusammen zu erleben. Andreas hat den Morgensport vorbereitet. Emil war unter anderem bei der Programmplanung dabei und hat Ideen für den Spieleabend eingebracht.
Die beiden treffe ich am Karfreitag-Abend via Zoom. Andreas hat einige Mädchen animiert, sich dazu zu schalten, die ebenfalls bei dem Online-Treffen dabei sind: Christina, 15, ist Andreas’ Schwester; Magdalena Binder, 17, aus der Nähe von Tulln; Sophia Oberhammer und Emma Leutgöb, beide 16 und aus Wien. Dass sie schon stundenlang in einer Videokonferenz zugebracht haben, ist ihnen nicht anzumerken. Mich interessiert, was ihnen Sorgen macht, wenn sie auf die Welt von heute schauen.
„Aktuell stört mich die Ignoranz vieler Menschen“, antwortet Andreas. Er hat in seiner Schule den Bereich Holztechnik belegt. Am Ende wird er die Matura, das österreichische Abitur haben, aber auch Erfahrungen beispielsweise als Tischler und im Bereich Architektur. „Im meinem Alter ist mir Schule wichtig. Als Jugendliche müssen wir darauf verzichten, Freunde zu treffen, machen Homeschooling oder haben sehr eingeschränkten Unterricht, setzen Masken auf, um vor allem auch Ältere zu schützen. Wenn ich dann Leute sehe, die nur an sich denken und sich nicht an die Regeln halten, empfinde ich das als Provokation.“ Emil sorgt sich um Menschenrechte und Gerechtigkeit: „Wenn man mitbekommt, dass China die Uiguren zu Hunderttausenden in Lager steckt, oder wie europäische Unternehmen Ressourcen in Afrika ausbeuten, wirken unsere Probleme winzig. Und außer ein paar Sanktionen zu verhängen, machen die EU und die USA nichts dagegen. Dass es uns gut gehen kann, weil es anderen dreckig geht, ist nicht richtig.“ Bei vielen politischen Entscheidungen gehe es letztlich um Geld. „Das scheint immer das Allerwichtigste zu sein. Das finde ich fragwürdig.“ Emma und Magdalena stört, dass Frauen nicht gleichgestellt sind: „Natürlich ist es bei uns viel besser als in anderen Ländern. Aber es ist immer noch ungerecht.“ Christina hofft, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit abnehmen: „Dass es vorurteilsfreier wird. Auch wenn wir in einem offenen Staat leben, werden viele wegen ihrer Religion oder ihrer Herkunft benachteiligt. Mit den Menschenrechten ist es wie beim Klimawandel“, meint Christina enttäuscht: „Alle wissen, wie es darum steht, aber die meisten unternehmen nichts. Ihnen ist vielleicht sogar klar, in welche Richtung es gehen müsste, sie handeln aber nicht dementsprechend.“

#ZeroHunger-Kampagne – bis 2030 Hunger ausrotten: Andreas und seine Freunde informieren Altersgenossen über Zusammenhänge von Konsum und weltweiter wirtschaftlicher Abhängigkeit

Viele der Themen, die sie beschäftigen, sind in das Programm des Kongresses eingeflossen. Bei den Workshops standen beispielsweise „Meine – deine – unsere Zukunft“, „Rassismus und Diskriminierung“ und „Umweltschutz“ zur Wahl, aber auch „Grafik“, „Veganes Backen und Kochen“, „Gewaltfreie Kommunikation“, „Maria 2.0“ und „Vertrauen in sich selbst, in andere und in Gott“. Andreas findet es wichtig, sich in den Bereichen fortzubilden, wo man etwas bewegen will: „So können wir gemeinsam dazulernen und bekommen Ideen, wie wir etwas besser machen können. Vieles ist darauf angelegt, selbst den ersten Schritt zu tun.“ Sophia versucht das schon seit einiger Zeit: „Ich bin Veganerin. Kleidung kaufe ich mir im Second Hand-Shop oder nähe mir selbst etwas um.“ – „Im Alltag kann jeder etwas verändern“, meint Emma. Sie will sich aber nicht auf eine Weise ändern, dass sie sich nicht mehr wohlfühlt. „Mode ist mir zum Beispiel wichtig. Da muss ich Kompromisse eingehen. Aber Fast Fashion, so billige Klamotten, dass man sie bald wieder wegwerfen muss, kommt für mich nicht infrage.“ Dazu beizutragen, die Welt menschlicher zu machen, fängt für Emil bei kleinen Gesten an: „Im Bus jemandem zulächeln, die Scheu überwinden und auf andere zugehen.“ – „Meinen Klassenkollegen helfen, das Auto anzuschieben, wenn die Batterie leer ist“, ergänzt Andreas.
Andreas und Emil, Christina, Emma, Sophia und Magdalena gehören zu den „Gen 3“, den Jugendlichen beziehungsweise der sogenannten „dritten Generation“ der Fokolar-Bewegung – von diesem Begriff ist die Abkürzung abgeleitet. Das Online-Treffen ist ihr „Gen 3-Kongress“. Ich möchte gern wissen, was die „Gen“ ausmacht. „Menschen ohne Vorurteile entgegentreten“, antwortet Andreas: „Ich versuche, die Goldene Regel zu leben, also jeden so zu behandeln, wie ich behandelt werden möchte.“ – „Sich in den anderen hineinversetzen“, ergänzt Christina: „Was würde ihm eine Freude machen? Wenn es ihm nicht so gut geht, schauen, was ich für ihn tun kann.“ – „Im anderen das Beste sehen, so als wäre er Jesus“, sagt Emil. „So leben, dass Jesus in unserer Mitte sein kann.“ Für Magdalena zählt, mit den anderen eine Gemeinschaft zu sein; welchen Glauben man hat, ist für sie weniger wichtig: „Menschen aller Religionen können dabei sein.“ Für Sophia und Emma spielt das Religiöse keine so große Rolle wie Offensein für andere und für Neues. Offenheit ist auch Christina wichtig. Sie ergänzt: „Die Grundlage dafür ist für mich, das Evangelium zu leben, also das, was Jesus gesagt hat.“

Gemeinsam einen Wald von Müll befreien.

Einig sind sich alle, dass die „Gen“ etwas zum Besseren hin verändern, sich für andere einsetzen wollen. Das tun sie auch schon, erzählt Andreas: „Bei einem Burschencamp haben wir einen Bach vom Müll befreit.“ – „Wir hatten Fußball gespielt und waren ziemlich kaputt“, erklärt Emil. „Dann ist uns der Bach aufgefallen. Offenbar hatten Leute dort Party gemacht und viel Abfall zurückgelassen. Da haben wir spontan gesagt: Das können wir nicht so lassen, das räumen wir jetzt auf.“ Im vergangenen Jahr bei einem gemeinsamen Sommercamp in Wien haben sich Mädchen und Burschen vor einen Supermarkt gestellt, erinnert sich Christina noch gut: „Jede Person, die reinging, haben wir gefragt, ob sie nicht mehr einkaufen kann, als sie braucht: haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel. Die Produkte könne sie uns dann spenden und wir leiten sie an den Le+O Sozialmarkt weiter.“ Das ist eine Einrichtung der Caritas, in der Bedürftige für wenige Euro ein Lebensmittel- oder Hygienepaket bekommen. „Ich war überrascht, wie viele sich darauf eingelassen haben“, gesteht Emma. „Mir fällt es schwer, Leute anzusprechen und ich hab mir vorher oft gedacht, der oder die gibt bestimmt nichts. Aber ich musste meine Vorurteile zurücknehmen. Einige, die für sich nur wenig brauchten, kamen mit einem vollen Einkaufswagen zu uns. Manche haben sich sogar bedankt, dass wir ihnen Gelegenheit geben, Gutes zu tun.“
Schon eine Tradition sind die Fairplay-Turniere, die die Gen 3 und die „Jugend für eine geeinte Welt“ in Wien veranstalten: Fußball- und Volleyball-Wettbewerbe, bei denen ein faires Zusammenspiel wichtiger als das Gewinnen ist. Spielerinnen und Spieler aller Nationalitäten sind willkommen, auch Flüchtlinge werden zum Mitmachen eingeladen. Der Erlös geht in soziale Projekte, zum Beispiel in Syrien.

Mit einer Aktion vor einem Supermarkt …

„Was es auch schon einige Jahre gibt, sind die „Social Days“, die wir zu Corona-Zeiten aber nicht durchführen können“, sagt Christina. „Dann dekorieren wir einen Saal, kochen für Nichtsesshafte ein Drei-Gänge-Menü und bedienen sie. Sie freuen sich sehr darüber, weil wir uns auch Zeit nehmen, uns mit ihnen zu unterhalten. Es ist ein Fest für sie, für das sie sich das Schönste anziehen, was sie haben. Wir haben dabei oft sehr berührende Gespräche.“ In anderen Jahren sind die Jugendlichen zum „Social Day“ in eine Einrichtung gegangen, in der Menschen mit einer körperlichen und geistigen Behinderung wohnen, oder in ein Altersheim. „Da waren auch an Demenz erkrankte Menschen dabei und wir haben mit ihnen gesungen“, erzählt Emil. „Die waren unglaublich froh, dass wir gekommen waren; sie wollten wissen, wer wir sind und was wir machen. Sie strahlten richtig!“

… über den Le+o Sozialmarkt der Caritas …

Jeder Tag vom Online-Kongress stand unter einem Motto: Open Your… Eyes, Mind, Heart, Hands, Doors – Öffnet eure Augen, euren Verstand, eure Herzen, Hände, Türen. Kurzvideos, geistliche Impulse und Praxisbeispiele stellten das jeweilige Motto vor. In Untergruppen konnten sich die Jugendlichen austauschen, wie sie es schon umgesetzt haben oder künftig leben wollten. Die Jugendlichen aus der Schweiz hatten einen Interaktiven Kreuzweg für den Karfreitag vorbereitet; für die Feier der Osternacht waren sie an die Siedlung der Fokolar-Bewegung im Schweizerischen Montet angeschlossen; der Kongress endete mit einem Sendungsgottesdienst aus dem Ökumenischen Lebenszentrum Ottmaring bei Augsburg. „Mir hat die Gemeinschaft gut gefallen und dass ich neue Leute kennengelernt hab“, schreibt Sophia in den Tagen danach über WhatsApp. „Obwohl wir weit verstreut waren, war die Verbindung untereinander so stark, dass es auch nichts ausgemacht hat, als es mal technische Probleme gab“, so Emil in einer Sprachnachricht.

… bedürftige Mitmenschen unterstützen.

„Ich fand’s schön zu sehen, dass wir nicht allein sind, sondern viele sich einsetzen“, schreibt Magdalena. „Ich nehme mir mit, dass wir bei Problemen und Ungerechtigkeiten nicht wegschauen dürfen, sondern etwas unternehmen müssen, selbst wenn es klein scheint.“ Emma fand toll, dass sie sich abends noch mit anderen in Online-Räumen treffen und miteinander reden konnte. Die Lockdown-Zeit hatte sie schon ziemlich mutlos gemacht. „Die Projekte und die Beispiele der anderen haben mich wieder motiviert, aktiv für eine geeinte Welt zu leben und mir neue Kraft gegeben.“ – „Nach so einer Begegnung hat man das Herz voller Liebe und ist motiviert, für die Einheit zu leben“, kommt von Christina. Andreas hat auf der Heimfahrt im Zug gleich versucht, auf Mitreisende zuzugehen. „Ich habe drei Leute kennengelernt und wir haben uns die ganze Fahrt hindurch unterhalten. Offen und ehrlich und über ziemlich tiefe Dinge.“
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2021)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München