1. Juni 2021

Wage, dich zu kümmern

Von nst5

Die Corona-Pandemie legt bloß,

dass sich die Weltgemeinschaft zu wenig um eine gerechte Verteilung der Ressourcen kümmert. Mit der Kampagne „Dare to Care“ richtet die Fokolar-Bewegung das Augenmerk auf die Nöte und Bedürfnisse besonders der Verwundbarsten.

Foto: (c) G. Sommer

Auf dem Autobahnrastplatz Hohe Mark West an der A 43, Nordrhein-Westfalen, erster Weihnachtstag 2020. „Als meine Tochter Marlene und ich dem Fahrer im Führerhaus eines dänischen Kühltransporters zuwinken, ist er überrascht“, berichtet Gerburgis Sommer aus Haltern am See. „Seine Augen werden noch größer, als wir ihm frohe Weihnachten wünschen und einen Beutel überreichen, gefüllt mit Obst, Wurst, Spekulatius, Schokolade, einer Flasche Bier, Shampoo, einem kleinen Wichtel und einem Weihnachtsgruß. Da steigen dem Mann, der um die 50 Jahre alt ist, die Tränen in die Augen.“ Dank einer Übersetzungs-App können sich die Sommers mit dem rumänischen (!) Fernfahrer verständigen. Er ist schon zwei Wochen unterwegs und wird seine Familie vier Monate lang nicht sehen. Über die Weihnachtstage sitzt er wie viele der oft osteuropäischen Fernfahrer an der Raststätte fest, die coronabedingt geschlossen ist. Die Tage verbringt er mit Fernsehen und Telefonieren.

Mexiko: Lebensmittelverteilung an Bedürftige
Dies & alle weiteren Fotos: (c) United World Project

Auf die Idee zu der Aktion hatte Marlene und Gerburgis Sommer ein Radiobericht über die missliche Lage der LKW-Fahrer an Weihnachten und einen Verein gebracht, der sie beschenkt. Auf der Suche nach Mitstreitern und finanziellen Mitteln waren sie auf das Netzwerk „Brücken bauen“ gestoßen. Über eine WhatsApp-Gruppe sind darin fünfzig engagierte Bürger, Kaufleute, Mitglieder von Kirchen, einer Bürgerstiftung und einer Ehrenamtsagentur zusammengeschlossen, die Hilfe anbieten oder in Anspruch nehmen können. Thomas Knuth und Gitta Kiehle hatten es im Herbst 2019 gegründet, um Menschen in Haltern finanziell oder materiell zu unterstützen. Die Resonanz war riesig: Innerhalb weniger Tage kam eine Fülle von Sach- und Geldspenden zusammen.

Kenia: Nähmaschinen für die Selbstständigkeit

Marlene und Gerburgis Sommer haben sich uneigennützig Menschen in einer Notlage angenommen. Damit passt ihre Initiative voll in die Kampagne #DareToCare der Fokolar-Bewegung, was so viel heißt wie „Wagt, euch zu kümmern“. Gemeint ist: um die Zerbrechlichsten, die Nachbarn, unsere Städte, die Institutionen, die Probleme in unserer Gesellschaft, um unseren Planeten. Die Corona-Pandemie hat uns die Anfälligkeit der Weltgesellschaft vor Augen geführt: Gesundheitswesen, Wirtschaft, Klima, Ernährung, Beziehungen befinden sich in einer Krise. Es braucht einen Wechsel der Perspektive und der Art und Weise, Probleme anzugehen. Die Kampagne will das Sich-Kümmern um den Einzelnen wie um das Gemeinwohl neu in das Bewusstsein der Bürger, aber auch in den Mittelpunkt der Politik rücken. Das lässt sich nur bewerkstelligen, wenn diejenigen, denen das ein Anliegen ist, im Kleinen anfangen. DareToCare geht davon aus, dass jede Veränderung nur im eigenen Herzen und mit konkreten Taten beginnen kann.

Marsabit, Kenia

Auch wenn viele Nachrichten den Anschein erwecken, als hätten Herzenskälte und Gleichgültigkeit die Oberhand, nehmen doch überall auf der Erde Menschen allerhand Mühe auf sich, um Nöte zu lindern.
In Marsabit, einer Halbwüsten-Region im Norden Kenias, haben Jugendliche eine Organisation gegründet, mit der sie die Lebensbedingungen verbessern: Um gewaltsamen Konflikten zu begegnen, bringen sie verschiedene ethnische Gruppen über Fußballturniere und Marathonläufe zusammen. Junge Soldaten, die ihre Waffen niedergelegt haben, versuchen sie mit einem Aufforstungsprojekt wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Mit dem Einbau von Filtern verschaffen sie den Bürgern sauberes Trinkwasser. Sie haben eine Schule ins Leben gerufen, die auch erwachsenen Frauen Bildung und damit später einen Weg aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von ihren Männern ermöglicht.

Kenia: Filter für sauberes Trinkwasser

In Kolumbien hat Alba Rada, 45, selbst vor sechs Jahren mit ihren zwei Söhnen aus Venezuela geflohen, eine Stiftung gegründet. So kann sie über 300 Familien, die auf der Straße leben, mit dem Lebensnotwendigsten unterstützen sowie venezolanischen Migranten helfen, die in ihre Heimat zurückkehren wollen. Rolando, der in Guatemala ein Café betreibt, bildet in Zusammenarbeit mit einer sozialen Einrichtung junge Leute aus, die in ihrer Kindheit Opfer von Missbrauch und Ausbeutung waren. Das gibt ihnen Würde und die Chance, einen Beruf zu erlernen und dem Teufelskreis der Armut zu entkommen.
Wer wirksam auf Nöte reagieren will, muss die Zusammenhänge durchschauen, durch die sie entstehen. Daher will #DareToCare nicht nur zum Handeln anstoßen, sondern auch ermutigen, sich über die Hintergründe Gedanken zu machen. Alle zwei Monate wird ein Video verbreitet, in dem Experten zu einem Themenbereich zu Wort kommen. Über Youtube können diese zumeist italienisch- oder englischsprachigen Videos aufgerufen werden („dare to care united world project“ ins Suchfeld eingeben), beispielsweise über „Zuhören, Dialog und Kommunikation“, „Geschwisterlichkeit und Gemeinwohl“, „Teilhabe und Mitbestimmung“.
„Learn, Act, Share – Lernen, Handeln, Teilen“, das Motto der Kampagne, umfasst einen dritten Aspekt: das, was man gelernt oder getan hat, weiterverbreiten. Zum Beispiel über soziale Medien oder bei „#daretocare in my city“, virtuellen Videokonferenzen nach Kontinenten, die ebenfalls in einem zweimonatigen Rhythmus stattfinden. Damit kann die Idee Kreise ziehen und anderen Menschen Mut machen, sich entsprechend ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten zu beteiligen.
#DareToCare gehört zu einer Reihe von Aktionen, die die Jugendlichen der Fokolar-Bewegung 2018 unter dem Titel „Pfade zu einer geeinten Welt – Pathways for a United World“ begonnen haben: ein Beitrag, um bis zum Jahr 2030 die siebzehn Ziele für eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen, die die UNO auf ihre „Agenda 2030“ gesetzt hat. Im ersten Jahr hatten die Aktivitäten „Wirtschaft, Arbeit und Gemeinschaft“ zum Thema. Im Jahr 2019-2020 ging es unter dem Motto #InTimeForPeace um Menschenrechte, Frieden, Legalität und Gerechtigkeit. Mehr und mehr beteiligen sich alle Altersstufen an den Aktivitäten. Die einzelnen Aktionsjahre finden jeweils Anfang Mai in der „Woche für eine geeinte Welt“ ihren Höhepunkt und ihren Abschluss. Diese bildet zugleich den Auftakt für die Thematik der folgenden zwölf Monate. Für 2021-2022 wird das der Umwelt- und Klimaschutz sein: die Frage, was ein nachhaltiger Lebensstil ist und wie wir ihn erreichen können, um die Natur zu schützen und folgenden Generationen eine lebenswerte Erde zu erhalten. Zu der „Woche für eine geeinte Welt“ 2020 haben rund 1000 Veranstaltungen in 90 Ländern beigetragen. Schon damals fanden die meisten wegen der Corona-Pandemie online statt wie auch die diesjährige Hauptveranstaltung.
Marlene und Gerburgis Sommer aus Haltern am See haben bei ihrem Einsatz an der Autobahnraststätte erlebt, dass die Sorge für Mitmenschen keine Einbahnstraße ist. 25 Fernfahrern konnten sie eine unerwartete Bescherung bereiten und bei ihnen für eine Weile das Gefühl von Einsamkeit und Nichtbeachtung vertreiben. Deren Dankbarkeit und Freude darüber strahlte auch auf Familie Sommer und das Netzwerk „Brücken bauen“ aus. Manche Trucker konnten es erst gar nicht fassen, dass wildfremde Menschen ihnen etwas schenken. Andere wollten sich unbedingt revanchieren: Ein Bulgare bot ihnen Waffeln aus seiner Heimat an, ein anderer Fahrer eine Flasche mit russischem Sekt.
Clemens Behr

Online-Meeting #DareToCare
Auf einer virtuellen Konferenz beraten Bürger und Politiker, wie sich Politik und persönliches Handeln stärker auf die Behebung der Nöte von Menschen konzentrieren können. Aus dem Programm:
7. Mai 12 Uhr: 45-Minuten-Übertragung aus Brüssel mit Ideen, Erfahrungen und Best-Practice-Beispielen aus aller Welt
Webinare/Workshops zu Migration, Gleichheit und Gerechtigkeit, Einsamkeit infolge der Pandemie
8. Mai: „Care Day” (Tag des Kümmerns): Verbände und Gruppen machen mobil, um die Bewältigung von Not in Regierungsprogrammen zu verankern
9. Mai 12 Uhr: 45-Minuten-Übertragung aus Brüssel: Start der zweiten Phase der Kampagne #DareToCare über ganzheitliche Ökologie mit Beispielen aus mehreren Ländern
Webinare/Workshops über nachhaltige Lebensstile,ökologische Kehrtwende, Zivilökonomie, inklusive Gesellschaft, Barrierefreiheit
Das vollständige Programm, bei dem auch EU-Institutionen einbezogen werden, finden Sie in Englisch, Französisch und Italienisch auf der Internetseite www.unitedworldproject.org

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2021)
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