4. August 2021

Eine Stimme für sozial Benachteiligte

Von nst5

Armut mit den Betroffenen gemeinsam zu bekämpfen, sollte selbstverständlich sein. Ist es aber nicht. Einige Gedanken dazu,

wie es funktionieren könnte.

Viele Personen sind in der Armutspolitik tätig: Regierungsmitglieder und (kantonale) Parlamente beschließen Maßnahmen und erlassen Sozialhilfegesetze; statistische Ämter publizieren Zahlen über das Ausmaß und die Entwicklung von Armut; Sozialdienste und weitere Organisationen unterstützen und beraten von Armut betroffene Personen; Hochschulen bilden Sozialarbeitende aus und betreiben Forschung; die Medien und die Öffentlichkeit schließlich diskutieren mehr oder weniger differenziert über Armut.
Welche Rolle aber übernehmen Personen, die von Armut betroffen oder gefährdet sind? Um ihr Leben geht es doch in den Entscheidungen und Angelegenheiten der Armutspolitik! Diese Frage hat sich auch das Bundesamt für Sozialversicherung der Schweiz gestellt und 2019 einen sechsjährigen Prozess begonnen, der die Teilhabe von armutsbetroffenen und -gefährdeten Personen in den Mittelpunkt stellt. Ich arbeite gerne an diesem Prozess mit, weil das Thema mich sehr bewegt.
Armut meint nicht nur ein Einkommen, das das Existenzminimum unterschreitet, oder materielle Entbehrungen, wie eine mangelhafte Wohnsituation oder die Unmöglichkeit, unerwartete Ausgaben zu tätigen. Armut weist ebenso soziale, kulturelle und gesellschaftliche Dimensionen auf, wie mangelnde Ausbildung, gesundheitliche Beeinträchtigungen oder das Gefühl, in der Gesellschaft keine Stimme zu haben. Eine Person drückte dies in einem Gespräch so aus: „Man verliert die Sprache, wenn man armutsbetroffen ist.“ Meine Begegnungen mit solchen Menschen waren oft aufrüttelnd. Die Lebenswirklichkeit dieser Menschen sieht anders aus, als Politik, Wissenschaft und Verwaltung sich das vorstellen!
Deshalb ist es nur klug, betroffene Personen an Maßnahmen und Prozessen der Armutspolitik zu beteiligen. Unsere Forschungen haben gezeigt, dass sich das auf drei Ebenen positiv auswirkt:

  • Die Personen selbst haben Zugang zu Informationen, nutzen und bauen ihre Fähigkeiten auf, stärken ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstwirksamkeit oder verstehen besser, welche Handlungsmöglichkeiten Fachpersonen haben.
  • Fachorganisationen, Verwaltung und Politik bekommen einen unmittelbaren Zugang zu Sichtweisen und Erfahrungen von betroffenen Personen. Das erhöht die Sensibilität für Armutsthematiken; blinde Flecken in Prozessen und Praktiken werden sichtbar und eine verbesserte Kommunikation und Zusammenarbeit ermöglicht.
  • Auf der gesellschaftlichen Ebene werden Vorurteile abgebaut, Armut kann besser bekämpft oder vorgebeugt werden und der soziale Zusammenhalt wird gestärkt.

Allerdings führen nicht alle Projekte, bei denen Beteiligung im Konzept steht, tatsächlich zu diesen Vorteilen; sie muss genau definiert werden, damit es nicht nur zu einer Scheinbeteiligung kommt. Sechs Dimensionen sind hier von zentraler Bedeutung:

  1. Gegenstand: Woran kann die betroffene Person teilhaben? An Prozessen einer Sozialhilfe-Organisation, an der Weiterbildung von Sozialarbeitenden oder Politikerinnen und Politikern, an der Entwicklung gesetzlicher Grundlagen, am öffentlichen Diskurs oder an gemeinschaftlicher Selbsthilfe?
  2. Welche zeitliche und strukturelle Einbettung ist vorgesehen? Handelt es sich um eine punktuelle, befristete oder um eine permanente Beteiligung, eventuell sogar mit einer Anstellung? 
  3. Wer hat die Projektverantwortung – eine Institution, die betroffenen Personen oder beide Seiten?
  4. Intensität der Partizipation: Erhalten die Betroffenen Information? Werden ihr Wissen und ihre Sichtweisen eingeholt (Konsultation)? Gestalten sie mit Fachpersonen Prozesse und tragen zur Wissensbildung bei (Co-Konstruktion)? Fällen sie mit anderen beteiligten Personen (Fachpersonen, Verwaltungsmitarbeitenden, politischen Akteuren) Entscheidungen (Mitentscheidung), oder entwickeln und führen sie Projekte selbstständig (Selbstorganisation)?
  5. Ziele: Welche übergeordneten Ziele werden verfolgt? Verbesserung von Organisationsstrukturen und -prozessen, Bewertung von professionellen Praktiken oder Sensibilisierung der Öffentlichkeit?
  6. Verortung: Auf welcher Ebene ist die Beteiligung zu verorten: lokal, regional oder national?
Illustration: (c) flaticon, bearbeitet von elfgenpick.de

Was braucht es sonst, damit Beteiligung gelingt? Optimal ist es, wenn Betroffenenorganisationen und die betroffenen Personen zum einen und die Fachorganisationen, Verwaltung und Politik zum anderen in einer verzahnten Form zusammenarbeiten. Es ist zentral, dass letztere finanzielle, zeitliche und personelle Ressourcen zur Verfügung haben und dass die Vorgesetzten hinter dem Projekt stehen. Bei allen Beteiligten ist die grundsätzliche Bereitschaft notwendig, vom anderen zu lernen, Bilder sowie Vorurteile zu hinterfragen und zu korrigieren oder Veränderungen anzugehen. Dies ist genauso herausfordernd wie das notwendige Bemühen, trotz des gegebenen Hierarchiegefälles möglichst auf Augenhöhe und in einer verständlichen Sprache zu kommunizieren. Wenn es gelingt, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, ist das für den Erfolg von großer Bedeutung. Bei alldem kann auch eine externe Moderation helfen.
Meine Erkenntnis der letzten Jahre: Armutsbetroffenen Personen an Maßnahmen und Projekten der Armutspolitik zu beteiligen lohnt sich. Die Möglichkeiten dazu sind vielfältig. Um einer Scheinbeteiligung – und damit neuer Enttäuschung – vorzubeugen, ist es sehr wichtig, dass zu Beginn genau geklärt wird, wie die Beteiligung aussehen soll. Ich kenne Projekte, in denen die Beteiligungsformen, Planungs- und Umsetzungsschritte mit den Betroffenen zusammen definiert und erarbeitet werden. Ich habe beobachtet, dass diese Projekte oft durch die Initiative und Ausdauer einer einzelnen Person oder einer kleinen Gruppe begonnen haben.
Fühlen Sie sich angesprochen? Dann versuchen Sie es! Sie können zum Beispiel in Ihrer politischen Gemeinde Kontakt mit Politikerinnen und Politikern oder Sozialdiensten aufnehmen und sie auf diesen Ansatz der Beteiligung aufmerksam machen. Oder Sie können sich erkundigen, ob ein Austauschtreffen mit Armutsbetroffenen, Fachpersonen und der Bevölkerung möglich ist, um Projektideen zu sammeln. Hier kann der Praxisleitfaden als Orientierung dienen. Weiter bestehen in Österreich, Deutschland und der Schweiz unterschiedliche Interessensorganisation (etwa Straßenmagazine wie „Hinz und Kuntz“ und „Surprise“ sowie Gassenküchen oder Gemeinwesenorganisationen), mit denen Projekte der Teilhabe entwickelt werden können.
Emanuela Chiapparini 1

1 Professorin in Sozialer Arbeit. Seit 2019 forscht und lehrt sie am Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule.

Publikationshinweise
Forschungsbericht mit Projektbeispielen:
Chiapparini, Emanuela; Schuwey, Claudia; Beyeler, Michelle; Reynaud, Caroline; Guerry, Sophie; Blanchet, Nathalie & Lucas, Barbara (2020): Modelle der Partizipation armutsbetroffener und -gefährdeter Personen in der Armutsbekämpfung und -prävention. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).
arbor.bfh.ch

Praxisleitfaden:
Müller, Rahel; Chiapparini, Emanuela (Juni 2021). „Wenn ihr mich fragt…“ – Das Wissen und die Erfahrung von Betroffenen einbeziehen. Grundlagen und Schritte für die Beteiligung von betroffenen Personen in der Armutsprävention und -bekämpfung.  Bern: Nationale Plattform gegen Armut/Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).
www.gegenarmut.ch

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2021)
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