3. August 2021

Grundhaltung, nicht Techniken

Von nst5

Tonja Deister, Weinheim

Tonia Deister. – Foto: privat

Jahrgang 1971, lebt mit ihrem Mann in Weinheim; gemeinsam haben sie drei Kinder. Die promovierte Psychologin arbeitet in einem Tumorzentrum und in freier Praxis. Neben verschiedenen Angeboten zu Entspannungsverfahren leitet sie Meditationskurse und praktiziert seit vielen Jahren das kontemplative Herzensgebet.

Lichtdurchflutete Waldlichtung, Vögel zwitschern. Sonnenuntergang am Palmenstrand im gleichmäßigen Rhythmus der landenden Wellen. Tiefes Schweigen im Meditationsraum des alten Klosters.
So sieht mein Leben nicht aus! Drei Kinder, Arbeit mit Tumorpatientinnen und -patienten im Krankenhaus, sogenanntes Ehrenamt in der Kirche, Haushalt und Garten. Zur Ruhe kommen bedeutet für mich, zu mir selbst zu kommen und zu entdecken, dass Gott mir näher ist, als ich selbst mir oft bin.
Als Psychotherapeutin gebe ich seit vielen Jahren Entspannungs- und Meditationskurse und weiß, wie groß manchmal die Verlockung ist, derartige Verfahren zum „spirituellen Bypassing“ zu nutzen, also dazu, unangenehme Gefühle oder störende Gedanken zu überdecken. Gerade bei Engagierten gibt es auch das tragische Missverständnis, dass Arbeiten bis zur Erschöpfung die Gewissensbildung ersetzt. Wenn ich abends todmüde bin, bin ich dem lieben Gott nichts schuldig geblieben – oder? Die Frage, lieber Gott, was willst du, dass ich tun oder lassen soll, ist anspruchsvoller.
Wichtig scheint mir beim Anliegen, zur Ruhe zu kommen, dass es nicht um den Einsatz einzelner Techniken, sondern um die Entwicklung einer wahrhaftigen und liebevollen Grundhaltung geht – auch mir selbst gegenüber. Das Doppelgebot Jesu ist eigentlich ein dreifaches: liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. In ihrem Text „Im Zug der Zeit“ lädt Chiara Lubich ein, bewusst und aufmerksam den Augenblick zu leben. 1 Damit versuche ich beim Aufstehen anzufangen: achtsam aufstehen und den Tag mit einem – langsamen – Kreuzzeichen zu beginnen. Vor dem Beginn der Aufgaben eine stille Zeit zu halten und meine Seele in die Gegenwart Gottes zu stellen. Dabei mehrmals in der Minute „lustige“, ablenkende Gedanken zu lassen und mich wieder und wieder zu sammeln. Im Laufe der Jahre habe ich gemerkt, dass der innere Muskel der Aufmerksamkeit tatsächlich stärker wird. Tägliches Üben lohnt sich: Mich zu fragen, wie ich die Mahlzeiten einnehme. Den Weg vom Parkplatz ins Krankenhaus und nach Dienstende zurück nicht immer langsam, aber doch aufmerksam zu gehen. Wind und Wolken, Sonne und Natur bewusst wahrzunehmen. Ein Tätigkeitsfeld hinter mir zu lassen, frei zu werden für das nächste – diese paar Minuten gehören nur mir und Gott. Mit zwei Weggefährten jeden Morgen einen Aspekt des Evangeliums zu teilen und mich vom Wort „leben zu lassen“. Zuschauen, wie Gottes Wort in mir Raum nimmt, welche Gedanken, Worte und Taten daraus entstehen. Dankbar staunen, wo das gelingt. Gelegentlich auch mit Gott schimpfen, wenn ich den Eindruck habe, dass ich ihn erinnern muss. Die Psalmen sind ein Wörterbuch des Dialogs mit Gott. Und abends: So wenig, wie ich wegen Müdigkeit aufs Zähneputzen verzichte, so treu Gott den Tag zurückgeben – mit Dank, Klage, manchmal auch ohne Worte.
In der Begleitung mit Krebspatientinnen und -patienten habe ich die Entdeckung gemacht, dass selbst in der Aufregung des OP-Tages viele mit einer kleinen Körperübung einen inneren Raum der Ruhe in sich spüren. Ich lade dann immer ein, dort einen Augenblick zu verweilen. Dort sind wir alle ruhig, dort sind wir alle heil und geliebt.

1 Ein Reisender käme nie
auf die Idee
im Zug auf- und abzugehen,
um schneller anzukommen,
sondern er bleibt
an seinem Platz.

So müssen auch wir
fest in der Gegenwart bleiben.
Der Zug, die Zeit,
geht von allein weiter.

Leben wir einen Augenblick
nach dem anderen,
bis wir ans Ziel kommen.

Aus: Chiara Lubich,
Vom Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks.
Verlag Neue Stadt, 2005

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2021)
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