3. August 2021

Stille und Fülle gehören zusammen

Von nst5

Seit ihrer Jugend beschäftigt sich Manu Theobald mit dem Thema Stille.

Die Münchner Fotografin ist überzeugt: Um das Leben nicht nur zu bewältigen, sondern es sinnvoll zu gestalten, braucht es einen inneren Leitfaden. Die Stille sei wie ein Schutzraum, der es möglich macht, aus einer unabhängigen Stabilität heraus zu leben.

Frau Theobald, wie kommt eine Fotografin dazu, ein Buch über das Thema Stille zu schreiben?
Als Fotografin liebe ich es, Themen aus vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten. So wollte ich collagenhaft ein Bild über die Stille zusammensetzen und habe mit vielen Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen darüber gesprochen, was Stille für sie bedeutet.
Das Thema beschäftigt mich selbst seit meiner Jugend. Dabei geht es um Fragen, die sicher viele andere sich auch stellen: Wie kann ich das Leben aus einer unabhängigen Stabilität heraus gestalten und mich von den Lebenswogen nicht hin und her gespült fühlen, auch wenn ich nie wissen kann, was im nächsten Moment passieren wird? Oder: Wie kann ich mit so vielen gesellschaftlichen Vorgaben ein aus mir heraus bestimmtes Leben führen? Antworten auf diese Fragen finden wir, so meine ich, nur aus einer tiefen inneren Anbindung heraus, die uns eine innere Ruhe gibt.

Was bedeutet es für Sie, zur Ruhe zu kommen und in sich zu ruhen?
Das beschreibt für mich ein Bild sehr gut: Das des Meeres, das in der Tiefe unberührt bleibt von den Wogen der Stürme, die an seiner Oberfläche manchmal ganz heftig toben können.

Viele Menschen hatten und haben den Eindruck, durch Corona ruhig gestellt zu sein – und sind dabei ganz unruhig geworden …
Der durch Corona äußerlich in vielen Bereichen aufgezwungene Stillstand ist für mich noch keine wirkliche Stille. Da passierte etwas, was wir auch sonst kennen, wenn man aus dem Lärm, den Aktivitäten des Alltags heraustritt. Zunächst kommen häufig all die Themen hoch, die wir vorher verschoben oder nicht wahrgenommen haben, und wir werden mit Unzufriedenheit, Langeweile, Angst und vielem anderen konfrontiert. Das erzeugt Unruhe, die auch eine Art von Lärm ist. Aber wenn man sich diesen Dingen stellt, kann man durch sie hindurch in eine wirkliche Stille kommen. Die hat dann gar nichts mehr von Langeweile, sondern ganz viel anzubieten, weil sie alles in sich trägt und wieder alle Möglichkeiten eröffnet.

Eine erfüllte Stille also?
Ja. Indem man darin leer wird, entsteht Raum für die gesamte Fülle. Stille und Fülle – das gehört immer zusammen! Insofern ist es gar nicht so still, wenn man sich in die Stille begibt. Dort können wir eine Erweiterung erfahren, weil wir uns an einen viel größeren Bereich anbinden als den rein kognitiven, den des Wissens, Verstehens, Denkens. Und aus dieser größeren Anbindung heraus können Situationen sich ganz anders darstellen als in der Schnelligkeit unseres Alltagslebens. Das gibt uns eine größere Unterscheidungsfreiheit und eine größere Unterscheidungsfähigkeit. Deshalb empfinde ich Stille als Weitung der Möglichkeiten.

Wo und wie finden Sie persönlich zu dieser inneren Ruhe?
In der Natur kann ich mich immer sofort in die Stille begeben. Man sieht die hohen Bäume, den weiten Himmel, das Meer und ist sofort Teil eines Konzeptes, das auch einer wesentlich größeren Ordnung entspricht als der von uns erfundenen. In der Natur komme ich ins Beobachten und ins Selbstvergessen und bleibe nicht mehr nur in meinen – oft auch ego-aufgeblasenen – Alltagsgeschichten: den Emotionen, den kurzen aufwühlenden Dialogen, den Dingen, die anstehen, …
Aber generell geht es in jedem Moment, in dem ich kurz innehalte, mich zurücknehme und einen herausgetretenen Blick auf eine Situation nehme. Kurz: Wenn ich der Stille Raum gebe, sich zu entfalten. Das kann überall stattfinden, in einem Verkehrsstau, zwischen zwei Telefonaten, auch kurz mitten in einem Gespräch. Stillwerden, hinhören, zuhören, Dingen nachspüren – das eröffnet die Möglichkeit, Leben zu gestalten und nicht gelebt zu werden.

Das klingt, als müsse man sich zum Stillwerden einfach nur entscheiden und es dann üben.
Ich glaube, es ist sehr wenigen Menschen vorbehalten, dauerhaft die Dualität unseres Lebens zu überwinden, dieses Gegenüber von zwei Sachverhalten. Für alle anderen gilt, dass wir zunächst die Dualität, in der wir leben, als Ganzes akzeptieren und in diesem gegensätzlichen Feld möglichst viel von uns kennenlernen. Das bedeutet, immer wieder zuhören, in die Stille gehen, unsere Aktionen und Reaktionen kennenlernen und so bessere Kenntnis von uns selbst erlangen, unsere nicht hilfreichen Reaktionsmuster verlassen und kreativ am Leben teilnehmen. Das ist ein ständiger Prozess des Ausbalancierens. Es ist geistige Hygiene, die wir genauso selbstverständlich kultivieren sollten, wie wir es mit unserer körperlichen Hygiene täglich tun.

Meinen Sie mit Dualität die beiden Pole „in sich ruhen“ und „aktiv sein“?
Ja, auch. Aber nicht in einem Gegeneinander. Wir brauchen den Wechsel von Aktivität und Ruhe. Es gibt für jedes Vorhaben eine Phase, in der zunächst Innehalten, Zuhören und Planen angesagt ist. Bevor man in die Aktion geht. Alles hat seine Berechtigung. Aber zu unterschiedlichen Zeiten.
Manchmal muss man sehr, sehr lange zuhören, hinhören, um Dinge ganz klar zu verstehen. Dann geht das Handeln fast wie von selbst.
In anderen Momenten braucht man einen sehr rhythmischen Wechsel aus Hinhören und Aktion und dann wiederum mehr Aktion als Hinhören, um etwas voranbringen zu können. Diese Abstimmung aufeinander, diese Kontrapunkte gehören unbedingt zusammen.

Aber man muss sie ausbalancieren?
Genau. Und ich glaube, das ist ein hoch aktiver Prozess: Dass wir in der Aufmerksamkeit und Lebendigkeit des Alltags immer wieder diese Dualität, in der wir sind, ausgleichen. Durch beständige Einübung kommen wir dann vielleicht mehr und mehr dazu, aus einem tieferen inneren Verständnis heraus Geschehnisse betrachten zu können.

Haben Sie Tipps, wie man dahin gelangen kann?
Im Grunde bedarf das der sehr sensiblen Fragestellung: Was brauche ich gerade?
Denn wenn man nur in Aktion bleibt, läuft man leer und wird irgendwann krank oder müde. Wenn man hingegen nur in der Stille bleibt, kann man sich sehr oft selbst täuschen, weil man unter Umständen in seiner Klause bestens mit dem Leben zurechtkommt; wenn man dann vor die Tür tritt aber bemerkt, dass einem die Begegnung mit anderen Menschen eine Menge Probleme schaffen kann und die unterschiedlichen Anforderungen, die das Leben stellt, uns nur reifen lassen, wenn wir uns damit auseinandersetzen und nach Lösungen suchen.

Dennoch meinen Sie, dass es notwendig ist, sich aktiv auf die Suche nach Stille zu machen?
Ja, weil wir nicht mehr wie naturnahe Völker in einen natürlichen Rhythmus eingebunden sind. Für sie ist Stille etwas Selbstverständliches.
Unsere Lebensräume sind ganz anders, besonders im großstädtischen Bereich. Durch unsere Erfindungen und die damit verbundenen Entwicklungen haben wir natürliche Gegebenheiten überwunden. Licht und Strom etwa geben uns die Möglichkeit, uns aus dem natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus zu lösen. Und das ist durchaus eine positive Errungenschaft. Aber damit sind wir auch mehr herausgefordert, uns die Ruhephasen und Stille selbst zu suchen und einzuplanen.
Darüber hinaus leben wir in einer so schnelllebigen Zeit, wir sollen dauererreichbar sein und werden beständig mit Idealbildern konfrontiert, wer wir sein und was wir wann wie schaffen sollten. Für viele ist es heute zunehmend schwierig geworden, mit dieser von außen übergestülpten Wirklichkeit und dem eigenen Sein klarzukommen. Das zeigen nicht zuletzt die vielen Ratgeber und die vollen Psychiatrien.
Um das Leben nicht nur zu bewältigen, sondern es sinnvoll zu gestalten, braucht es einen inneren Leitfaden. Wir sind doch sehr verletzliche Wesen und haben wenig natürlichen Schutz zur Verfügung. Deshalb müssen wir uns unsere Schutzräume, diese Ruhephasen, selbst schaffen.

Aber gibt es nicht auch etwas wie produktive Unruhe?
Ganz sicher. Das sind Impulse, die uns elektrisieren und bewirken, dass wir ein Projekt überhaupt angehen. Damit wird unsere Energie mobilisiert und freigesetzt.
Und genauso kann man inmitten größter Aktivität in sich ruhen. Das muss man sogar. Das nennen wir Konzentration. Und auch sie ist notwendig, um Projekte gut durchführen zu können.

Abschließend: Wie viel Stille braucht es?
Wie bei so vielem in unserem Leben geht es auch da um das rechte Maß, um die Ausgeglichenheit. Es ist sehr schwierig, das pauschal zu benennen. Auch weil es von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist. Es gibt die einen, die einen sehr natürlichen, großen und spontanen Zugang zur Stille in sich haben und diesen deshalb gar nicht suchen müssen. Andere, die ihre Kräfte so sehr verausgaben, dass sie sogar gesundheitlich leiden, müssen sich wiederum mehr darum kümmern.
Allgemeingültige Rezepte gibt es also nicht. Ich glaube, es geht vielmehr darum, den je eigenen Weg zu finden – und dabei die Fülle und Faszination von Stille für sich und das eigene Dasein immer wieder neu zu entdecken.

Herzlichen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg

Foto: (c) Vincent Merkl

Manu Theobald
war zunächst Mode- und Werbefotografin. Nach drei Jahren wechselte sie zur Reisedokumentation und Porträtfotografie – angetrieben von ihrem ursprünglichen Wunsch, Geschichten über Menschen zu erzählen. Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, über Lebensräume und –entwürfe, um sich so der Komplexität des Lebens anzunähern. Ihre Aufträge führten sie nach Afrika, Asien und durch weite Teile Europas. Die Münchnerin fotografiert inzwischen verstärkt für Stiftungen aus den Bereichen Kultur, Innovation und Wissenschaft. Seit Ende 2016 arbeitete sie an dem Buch „Stille ist“.
www.manutheobald.com

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2021)
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