4. Oktober 2021

Aufmerksamkeit wirkt Wunder

Von nst5

Die Beziehung unter Geschwistern ist oft von großer Innigkeit, aber auch von Konkurrenz

gekennzeichnet. Kleine Reibereien sind ganz normal. Woran können Eltern erkennen, dass der Konkurrenzkampf aus dem Ruder zu geraten droht? Was können sie dagegen tun?

Andrea Hendrich,
Familientherapeutin, Tutzing
Schon aus der Bibel kennen wir Geschwisterkämpfe. Auch Märchen erzählen uns von „Hänsel und Gretel“ oder von Anna und Elsa in der „Eiskönigin“. Geschwisterkonstellationen sind spannend und selten unbelastet. Unsere Beziehung zu Bruder und Schwester ist der erste Ort, an dem wir streiten und versöhnen lernen.
Was können nun Eltern tun, um die Geschwisterbeziehung positiv zu unterstützen? Aus meiner beruflichen und persönlichen Erfahrung scheint mir Folgendes wichtig:
Nicht vergleichen. Kein Geschwisterkind ist wie das andere und jedes Kind wird sich seine Nische in der Familie, in der jeweiligen Situation suchen. Die Einmaligkeit betonen und auch unterstützen, ist wichtig.
Jedem Kind geben, was es braucht. Wir sollten unsere Kinder gleich behandeln und gerecht sein. Doch das heißt nicht, dass alle dasselbe von uns bekommen, sondern, dass jedes Kind das erhält, was es wirklich braucht. Während das eine Kind vielleicht Nachhilfe bekommen sollte, benötigt das andere ein unterstützendes Sportangebot.
Glaubwürdiges Vorbild sein. Unsere Kinder schauen auf uns, beobachten, wie wir mit unseren eigenen Geschwistern umgehen. Streiten und versöhnen wir uns? Wie sprechen wir von und mit unseren Geschwistern? Leben wir das, was wir von unseren Kindern verlangen?

Monika Remedios,
Mutter von zwei Kindern, München
Es passiert oft, dass ich in der Tür stehen bleibe und dankbar und froh beobachte, wie meine Kinder Lisa (3) und Martin (6) liebevoll miteinander spielen. Als Lisa auf die Welt kam, habe ich mich darauf vorbereitet, dass Martin eifersüchtig sein wird und meine volle Aufmerksamkeit vermissen wird. Es war aber ganz anders. Was Martin gebraucht hat, war nicht Zweisamkeit mit mir allein, sondern ein Zusammensein, ein Einbezogensein in den neuen Alltag. Das ist die Basis für eine starke Geschwisterliebe geworden: Wenn Lisa naschen will, nimmt sie gleich zwei Gummibärchen, damit Martin auch eins kriegt. Wenn Martin spielt, nimmt er Lisa in seine Märchenwelt hinein und gibt ihr eine wichtige Rolle.
Die Harmonie zwischen den Kindern kann aber schnell platzen, und aus heiterem Himmel entsteht Streit: Wer ist erster? Wem gehört das Spielzeug? Wer hat recht? In diesen Situationen setze ich mich zu ihnen auf den Boden, höre mir alles an, umarme sie. Diese ungeteilte Aufmerksamkeit wirkt Wunder: Es genügen oft wenige Minuten, und das Spiel geht auch ohne mich toll weiter.
Und dann gibt es das klassische Chaos, wenn man mit Kindern aus dem Haus will: Auch bei uns passt die Socke nicht, verschwindet ein Schuh; und der Streit, wer die Knöpfe im Aufzug drücken darf, gehört natürlich dazu.

Ulrich Busch
Diplom-Psychologe, Weilrod
Geschwisterrivalität entsteht häufig von alleine. Kinder vergleichen sich untereinander. Manchmal vergrößern Nachbarn oder Lehrerinnen die Rivalität, indem auch sie ständig vergleichen. Am meisten beeinflussen aber die Eltern ihre Kinder und damit auch ihre Rivalität. Auch sie vergleichen ein Kind mit dem anderen. Oder sie sagen einem Kind, dass es ein Vorbild für die anderen sein soll. So erzeugen sie Erwartungen; einige Kinder erfüllen diese besser als andere. Das erzeugt Neid. Auch ein geringer Altersabstand kann zu Geschwisterrivalität führen. Jungen vergleichen sich häufig in der Leistung, neigen dazu, die Rivalität körperlich auszutragen. Mädchen nutzen meist eher Worte dazu. 
Woran können Eltern erkennen, wann der Konkurrenzkampf aus dem Ruder läuft? Wenn auffällt, dass kaum ein Tag vergeht, an dem nicht laut gestritten wird, oder wenn Kinder unverhohlen ihren Hass oder ihre Enttäuschung ausdrücken. 
Was können Eltern tun? Die individuellen Fähigkeiten der Kinder würdigen und stärken. Jedes Kind ist anders und sollte auch so betrachtet werden. Jedes Kind hat auch Schwächen – und benötigt genau dann Ermutigung. Das Wichtigste ist, dass ein Familienklima herrscht, in dem jedes Kind so sein darf, wie es ist.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2021)
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