2. Dezember 2021

„Mit anderen wird so vieles möglich!“

Von nst5

Die Kölner Musikstudentin Marie Deregowski

wollte sich nicht damit abfinden, dass die Pandemie viele Initiativen ausgebremst hat. Mit zwei ihrer Freunde hat sie nach neuen Formen gesucht. Mit Erfolg.

Marie Deregowski.
Fotos auf dieser Seite: privat, Bastian Ramakers

Es ist Anfang 2020. Die Coronapandemie hat Mitteleuropa noch nicht erreicht. Einige Gen – die junge Generation der Fokolar-Bewegung, die sich für eine in Vielfalt geeinte Welt einsetzt – aus Deutschland, Österreich und der Schweiz planen den VolleyDay. Ende März sollen zum 20. Mal Volleyballmannschaften in einem Sponsorenturnier in der Schweiz gegeneinander antreten und Geld für ein Sozialprojekt sammeln. Wenige Wochen später hat die Pandemie den deutschsprachigen Raum fest im Griff. Mitte März beginnt der erste Lockdown. Der VolleyDay muss abgesagt werden.
Marie Deregowski will sich damit nicht abfinden. Sie schreibt an Dominik Maxelon und Manuel Ledergerber, zwei Freunde, die sich ebenfalls bei den Gen engagieren: „Können wir stattdessen nicht irgendwas anderes machen?“ Schnell entstehen erste Ideen, etwa eine Online-Spendenaktion für Café con Leche e.V., ein Fußball- und Bildungsprojekt in der Dominikanischen Republik. Aber Marie und ihre Freunde wollen mehr. Schließlich geht es beim VolleyDay nicht nur um Geld, sondern ganz wesentlich auch um Gemeinschaft.
Marie trifft sich mit Manuel und Dominik auf Zoom. „Ich glaube, das war meine erste Zoom-Erfahrung überhaupt“, erinnert sie sich. Damals hätte sie sich nicht vorstellen können, dass sich bald fast ihr kompletter Alltag auf der Videokonferenzplattform abspielen würde. Die drei stellen einen Bunten Online-Abend mit unterschiedlichsten künstlerischen Beiträgen und Erfahrungsberichten auf die Beine. Am Vormittag des 28. März, dem Tag des abgesagten VolleyDay, kommen junge Leute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz digital zur gemeinsamen Vorbereitung zusammen. Sie teilen sich in Gruppen auf, die alle einen Beitrag erarbeiten, der abends per Live-Stream zu sehen ist. Es entsteht ein vielfältiges Programm, das die Jugendlichen genau die Gemeinschaft erfahren lässt, die Marie, Dominik und Manuel sich gewünscht haben. „Ich war echt überrascht, was online möglich ist“, erzählt Marie. „Wie verrückt, dass wir in zwei Wochen sowas auf die Beine stellen konnten!“

Inzwischen breitet die Pandemie sich weiter aus. Marie und ihren Freunden wird klar, dass es so schnell kein Zurück in die Normalität geben wird. Also machen sie weiter. Im April gibt es einen zweiten Bunten Online-Abend; diesmal sind auch Jüngere beteiligt. Marie, Manuel und Dominik haben sich in die technischen Finessen von Videokonferenzen und Streams eingearbeitet, die Organisation und Kommunikation digitalisiert. „Der zweite Abend war schon viel professioneller“, berichtet Marie. „Und durch die Einbindung von Jugendlichen ab zwölf Jahren hatte er für mich auch sowas wie eine pädagogische Note.“ Sie und Dominik studieren Lehramt, sodass sie auch ihre organisatorische Rolle neu reflektierten. „Für mich war zum Beispiel schon die Frage, wie viel Raum ich den Jüngeren lassen muss.“ Ihr Bemühen, alle gleichermaßen einzubeziehen, trägt Früchte. Auch der zweite Bunte Online-Abend wird ein voller Erfolg.
Die jungen Leute machen dort nicht nur Musik oder erklären in urkomischen Szenen, worauf beim Skifahren zu achten ist, sie lassen die anderen auch daran teilhaben, wie ihr Alltag in der Pandemie aussieht. Sie erzählen, wo sie sich für andere einsetzen, zum Beispiel bei einer Aktion für ein Altenheim. Dominik lassen diese Berichte nicht los. Bei der Nachbesprechung des Abends, bei der auch Johannes Pfeiffer, ein Begleiter der jüngeren Gen, dabei ist, sagt er: „Es ist so cool, was die Jugendlichen alles machen. Aber wo sieht man das?“ Die drei sind sich einig: Die jungen Leute brauchen eine Plattform. Irgendwo muss sichtbar werden, wie, wo und warum die Gen sich engagieren. Sofort rufen sie Andrea Fleming an, die für die Öffentlichkeitsarbeit der Fokolar-Bewegung in Deutschland zuständig ist. Trotz vorgerückter Stunde – es ist bereits zehn Uhr abends – nimmt sie den Hörer ab. Auch Beatrix Ledergerber, Kommunikationsbeauftragte für die Fokolar-Bewegung in der Schweiz und Mutter von Manuel, kommt dazu. Marie, Manuel und Dominik erzählen von ihrem Wunsch, dem Leben der Gen mehr Öffentlichkeit zu verschaffen. Andrea und Beatrix sagen ihnen volle Unterstützung zu. Auch Johannes Pfeiffer hilft den dreien von jetzt an mit Rat und Tat.

Für die fachliche Unterstützung sind Marie, Manuel und Dominik dankbar. Bei aller Leidenschaft: Weder sind sie Kommunikationsprofis noch sind ihre zeitlichen Kapazitäten unbegrenzt. Ihr Studium erledigt sich ja keineswegs von allein. Nach ihrem Bachelorabschluss in mehrsprachiger Kommunikation hatte Marie im Wintersemester 2019/20 ein Musikstudium begonnen. Auch das fand – wie bei fast allen Studierenden – überwiegend digital statt. Marie kam kaum noch vom Rechner los. „Marie zoomt wieder“, war ein häufiger Satz in der WG, in der sie lebt. Tagsüber absolvierte sie Online-Vorlesungen, Gesangs- oder Klavierunterricht digital, abends zoomte sie immer wieder mit Manuel und Dominik. In diesen Gesprächen ging es vor allem um die Projekte für die Gen; hin und wieder tauschten die drei sich aber auch über ihr Studium aus. Marie empfand das als große Bereicherung: „Im Sommersemester 2020 sollte ich im Rahmen eines Praktikums an einem Gymnasium eine Unterrichtsstunde in einem Musikleistungskurs halten. Davor hatte ich ganz schön Respekt. Es hat mir sehr geholfen, mit Manuel und Dominik meine Stundenkonzeption zu besprechen. Die beiden studieren auch Musik und so haben wir uns oft über musikalische Inhalte ausgetauscht.“
Unterstützung und Rückhalt erfährt sie auch von ihrer Familie und den jungen Frauen aus ihrer WG. Den ersten Lockdown verbringen Marie und ihre drei jüngeren Brüder im Elternhaus. Wenn Marie mal zu lange in ihrem Laptop versinkt, redet ihre Familie ihr ins Gewissen und sorgt für den nötigen Ausgleich. Bei den gemeinsamen Abendessen in ihrer WG kann sie sich Luft machen, wenn sich im Laufe mehrerer Videokonferenzen Ärger angestaut hat. Hier ist immer jemand, der ihr oder dem sie zuhört. Wie dankbar sie dafür ist, wird Marie besonders im Blick auf diejenigen Menschen bewusst, die in der Pandemie ganz auf sich gestellt sind und allein leben.

„Zu wissen, dass ich Dinge nicht aus eigener Kraft stemmen muss, ist für mich total wichtig“, sagt sie. „Es gibt so vieles, was ich gern tun würde. Manchmal bin ich verzweifelt, wenn ich daran denke, was sich ändern muss, vom Hunger in der Welt bis zum Klimawandel. Dann weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll.“ Nach dem Abitur hatte Marie zehn Monate auf den Philippinen verbracht und dort im Sozialzentrum Bukas Palad gearbeitet. Damals wurde ihr klar, wie privilegiert sie ist. Sie hat keine existenziellen Sorgen, lebt in Wohlstand, Freiheit und Sicherheit. Immer wieder kommt seither die Frage hoch: „Wie kann ich so entspannt hier in Deutschland sitzen, während andere verhungern?“ Oder im Blick auf das Klima: „Wie kann ich noch warm duschen, wo die Erde kurz vorm Klimakollaps steht?“ Halt gibt ihr in solchen Momenten ein tiefes Vertrauen, dass sie nicht alleine ist. Dass es andere Menschen gibt, mit denen auf einmal ganz viel möglich wird. Mit denen sie gemeinsam etwas tun kann gegen Ungerechtigkeit, Not und Umweltzerstörung.
Mit Dominik und Manuel tut sie eine ganze Menge. Aus dem nächtlichen Telefonat mit Andrea Fleming entsteht sogar ein handfester Job. Die Jugendlichen der Fokolar-Bewegung bekommen drei Minijobs für Öffentlichkeitsarbeit. Das Rennen machen Jakob Dachs-Wiesinger aus Österreich, Christian Egermann aus Deutschland und Auriane Freléchoz aus der Schweiz. Zusammen mit Marie, Dominik, Manuel, Johannes und Andrea entwickeln sie im August 2020 das Konzept für die Webseite www.newgen-dach.net, gründen einen Instagram- und einen YouTube-Kanal.
Diese Arbeit war gar nicht so einfach, erinnert sich Marie. „Wir haben unendlich viel über die Texte auf der Plattform diskutiert. Sie sollten für jede und jeden verständlich sein, alle sollten sich darin wiederfinden.“ Als sehr positiv erlebt hat sie, wie diese Diskussionen vonstatten gingen. „Unsere Debatten waren immer konstruktiv. Es ging uns darum, gemeinsam das Beste aus den Texten rauszuholen – so lange, bis es stimmt.“ Die Mühe scheint sich gelohnt zu haben. Im August 2021 hatten bereits 341 Menschen den Instagram-Kanal abonniert.
Online gingen Webseite und Social Media-Kanäle im Februar 2021. Wieder hatten Marie und ihre Mitstreiter zu einem Bunten Online-Abend eingeladen. In dessen Rahmen wurde die neue Internetpräsenz vorgestellt. Diesmal sendeten Marie, Dominik und Manuel sogar aus einem waschechten Tonstudio. Auch die Moderation und die Beiträge sind von Mal zu Mal professioneller geworden. Marie kennt sich jetzt ziemlich gut mit Grafikprogrammen und der Erstellung von Flyern sowie dem Schnitt von Filmen aus. Die Webseite hat Jakob, der Informatik studiert, selbst gebaut. „Es hat schon Spaß gemacht, durch dieses Projekt so viele Dinge zu lernen“, erzählt Marie. „Und es ist einfach unglaublich zu sehen, was in diesen Monaten der Pandemie alles entstanden ist.“

In ihr Erstaunen darüber, was aus ihrem ersten Impuls, den VolleyDay nicht sang- und klanglos ausfallen zu lassen, geworden ist, mischt sich eine Spur Nachdenklichkeit: „Vielleicht haben wir uns bei diesem dritten Abend ein bisschen übernommen“. Die Vorbereitung fiel in die Zeit der Klausuren an der Uni. Oft saß sie gemeinsam mit Dominik und Manuel bis tief in die Nacht in einer Zoom-Konferenz. „Jeder hat für sich seine Sachen gemacht, aber wenigstens waren wir zusammen.“
Über die Monate ist zwischen den dreien eine sehr gute Zusammenarbeit entstanden. „Manchmal habe ich eine sehr genaue Vorstellung von Dingen. Und je wichtiger mir etwas ist, desto schwerer fällt es mir, sie loszulassen“, gesteht Marie ein. Bei Dominik und Manuel, aber auch dem Öffentlichkeitsarbeits-Team gelingt ihr das inzwischen fast mühelos. „Wir haben so viel miteinander geschafft, da wächst die Sicherheit, dass die Sachen gut werden. Ich weiß: Irgendwie funktioniert es immer. Und meistens wird es dann noch viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe.“
Katharina Wild

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/Dezember 2021)
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