3. Februar 2022

Allein bei mir

Von nst5

Stadt muss nicht einsam machen.

Illustration: (c) moomusician (iStock)

Die Lebenserwartung in der schottischen Stadt Glasgow ist deutlich niedriger als anderswo in Großbritannien. Seit Jahren ist in der medizinischen Literatur vom „Glasgow-Effekt“ die Rede. Die Stadtplanung der 1950er-Jahre hat die Menschen dort anfälliger gemacht für seelische und körperliche Erkrankungen. Die Stadt ist vor allem funktional gestaltet. Die Flächen für das Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Erholen sind strikt getrennt und liegen weit auseinander.
Ein lebendiges Stadtviertel – so weiß man heute – braucht kurze Wege und viele Begegnungsräume. Ein gelungenes Beispiel dafür ist die Südstadt in Tübingen. Hier haben die französischen Alliierten bei ihrem Abzug Anfang der 1990er-Jahre einen ganzen Stadtteil hinterlassen. Die Stadt hat dieses Gebiet komplett neu geplant. Unter anderem entstand ein Studentendorf mit Wohnheimen, kleinen Läden und Cafés. Einige Gebäude wurden saniert, andere entstanden neu. In den ehemaligen Pferdeställen sind Restaurants und Geschäfte untergebracht, die frühere Panzerhalle ist offene Mehrzweckhalle. Auch viele junge Familien ziehen in das Quartier mit eigener Kindertagesstätte und mehreren Spielplätzen. Unterschiedliche Bauherren gestalteten vielfältige Gebäude. Die Häuser sind verwinkelt und mit natürlichen Elementen verbunden. Auffallend sind auch die bunten Farben der Gebäude. Inzwischen hat der Stadtteil, das sogenannte Französische Viertel, die höchste Bevölkerungsdichte der Stadt und gilt trotzdem als besonders lebenswert.

Foto: (c) francescoch (iStock)

Allein zu Haus
Alleine leben und einsam sein ist nicht das gleiche. Und doch ist die zunehmende Zahl von Einpersonenhaushalten in vielen Teilen Europas ein Hinweis auf wachsende Einsamkeit. In etwa jedem dritten Haushalt in Europa wohnt nur eine Person, das entspricht etwa 15 Prozent der Bevölkerung. In Österreich wuchs der Anteil von Einpersonenhaushalten von 25,6 Prozent (1971) auf 37,8 Prozent (2020), in der Schweiz von 20 Prozent (1970) auf 36,4 Prozent (2020), in Deutschland im gleichen Zeitraum von 25,1 Prozent auf 40,6 Prozent.

Minister
In Großbritannien gibt es seit 2018 ein Ministerium für den Kampf gegen die Einsamkeit . Amtsinhaber ist seit Oktober 2021 Nigel Huddleston. Es unterstützt etwa Wandergruppen, Gemeindechöre, Stadtteilzentren und Beratungsstellen. Ärzte dürfen „Gesellschaft auf Rezept“ verschreiben und so Betroffene mit Helfern zusammenbringen.

5 – 15 – 150
Seit 1992 erforscht Robin Dunbar menschliche Netzwerke. Dabei hat der Anthropologe der Universität Oxford herausgefunden, dass unser Gehirn rund 150 Personen managen kann. Demnach könnten wir 150 Freunde haben – die sogenannte Dunbar-Zahl. Sie ist zwar nicht unumstritten – Wissenschaftler der Universität Stockholm haben sie kürzlich sogar verworfen – und doch deckt sie sich mit dem Erleben vieler Menschen. Vor einigen Jahren hat Robin Dunbar die Zahl leicht erhöht auf 180 mögliche Freunde. Grund, so der Forscher, könnte die Verbreitung sozialer Netzwerke sein. Tatsächlich liegt bei den meisten Menschen die Zahl der Freunde dort zwischen 100 und 250.
Die Anzahl an Freunden, mit denen wir regelmäßig Kontakt pflegen, ist deutlich niedriger. Der nähere Freundeskreis ist selten größer als 15 Personen. Die richtig engen Freunde bleiben sogar auf drei bis fünf Menschen begrenzt.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2022)
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