4. Februar 2022

Versickern der Lebenskraft

Von nst5

Einsamkeit hat persönliche,

gesellschaftliche und geistliche Ursachen. Doch jedes kleine Zeichen der Zuwendung hilft.

Manchmal sind es kleine, fast beiläufige Nachrichten, die etwas in Bewegung setzen. So etwa zu Ostern 2021: Gut 150 Jugendliche zwischen zwölf und 17 Jahren aus der Schweiz, Österreich und Deutschland waren zu einem Online-Meeting zusammengekommen. Als sie die Frage beantworten sollten, was das Schwierigste für sie in der Pandemie sei, war die häufigste Antwort: Einsamkeit. Von alten Menschen wusste man ja, dass Einsamkeit ein großes Problem ist. Aber bei 12- bis 17-Jährigen?
Laut einer Studie der Europäischen Union hat sich durch die Pandemie der Anteil der EU-Bürger, die sich einsam fühlen, verdoppelt: Von zwölf Prozent im Jahr 2016 auf 25 Prozent im Frühjahr 2020. Und tatsächlich: Während vor der Pandemie hauptsächlich ältere Menschen unter Einsamkeit litten, vervierfachte sich in den Monaten April bis Juli 2020 der Anteil der 18- bis 25-Jährigen, die angaben, sich mehr als die Hälfte der Zeit einsam zu fühlen, auf 36 Prozent.
Sicher, es kann gut sein, dass diese Zahlen nach dem Ende der Pandemie wieder zurückgehen. Einsamkeit ist bei vielen Menschen nichts Dauerhaftes. In drei Lebensphasen macht sie sich besonders bemerkbar: Bei Jugendlichen, wenn sie mit etwa 20 Jahren Elternhaus und Heimatstadt verlassen, bei Erwachsenen mit Mitte 40, wenn die Kinder groß geworden sind, und bei älteren Menschen, wenn der Partner, die Partnerin oder auch enge Freunde sterben.
Andere Gründe für die Einsamkeit wirken eher langfristig und verstärken sich gegenseitig: Gerade im Berufsleben werden Flexibilität und Mobilität ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Das führt dazu, dass Familien – Kinder, Eltern, Großeltern – oft weit verstreut leben und auch, dass Partnerschaften erst spät eingegangen werden können.
In einem bemerkenswerten Interview mit dem Wirtschaftsmagazin „brand eins“ sagt die Unternehmerin und Politikerin Diana Kinnert: „Ich bemerke, dass das Soziale, das Verbindende oftmals wegrationalisiert wird. … In jungen Unternehmen fehlen Betriebsräte und Personalvertretungen, dafür suggerieren neue Büros mit zahlreichen Glaswänden Nähe. … Aggressives Duzen, kostenfreies Obst in der Mittagspause und Firmen-Events am Wochenende erzeugen künstliche Wärme. In Wahrheit aber wird Unklarheit gesät. Es fehlen klare Mechanismen, für seine Arbeitnehmerrechte einzutreten. Das ist ein Rückschritt.“ Und weiter: „Wo Flexibilität verherrlicht, das Bindungslose gepriesen wird und Oberflächlichkeit und Glätte als Ideale erscheinen, ist eine echte anstrengende Beziehung kein Sehnsuchtsort. Das Kurzzeitige des Wirtschaftens durchdringt andere Bereiche. Und auf einmal wird auch in privaten sozialen Beziehungen eher inszeniert als wirklich geliebt.“
„Wikipedia“ definiert Einsamkeit als „eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlich vorhandenen sozialen Beziehungen eines Menschen. Es handelt sich dabei um das subjektive Gefühl, dass die vorhandenen sozialen Beziehungen und Kontakte nicht die gewünschte Qualität haben.“

Illustration: (c) Jorm Sangsorn (iStock)

Der indische Gelehrte Suhir Kakar machte kürzlich in DIE ZEIT deutlich, dass Einsamkeit nicht nur persönliche und gesellschaftliche, sondern auch geistliche Ursachen hat: Einsamkeit, so schrieb er, sei „eine Erschöpfung der liebevollen Verbundenheit, ein Versickern der Lebenskraft“. Sie ginge mit Angst einher, der Angst vor einer unvorstellbaren Einsamkeit, in der der Mensch aller Verbindungen zu anderen Menschen und auch zur Natur beraubt sei.
Einsamkeit ist also ein unerwünschter Zustand. Das war nicht immer so: Vom Mittelalter bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts hinein galt Einsamkeit vielen als etwas Erstrebenswertes. Für den deutschen Mystiker Meister Eckhart (1260-1328) bedeutete Einsamkeit Eins-Sein mit Gott. Und der russische Schriftsteller Leo Tolstoj (1828-1910) schrieb: „Je einsamer jemand ist, desto deutlicher hört er die Stimme Gottes.“
Auch heute noch sprechen Menschen ab und zu davon, dass sie die Einsamkeit suchen. Vielleicht geht es aber eher um das Allein-Sein. Tatsächlich kann das selbstgewählte Allein-Sein eine Kraftquelle sein, eine Möglichkeit, neuen Grund unter die Füße zu bekommen. Ja, es ist sogar wichtig, mit sich selbst allein sein zu können, um ungewollte, bedrückende Einsamkeit zu vermeiden.
Einsamkeit hat persönliche, gesellschaftliche und geistliche Ursachen. Das wollen die Beiträge auf den folgenden Seiten deutlich machen. Und sie wollen zeigen, dass auch in all diesen Bereichen anzusetzen ist, wenn man Einsamkeit vermeiden oder ihr entkommen will.
„Wir sind alle auf unsere Weise einzigartig, wertvoll, liebenswürdig – und wir sind alle angewiesen auf Verbundenheit und Verbindung“, meint unser Interviewpartner Matthias Horx. Da hilft jedes kleine Zeichen der Zuwendung, wozu etwa die Aktion #jetzthoffnungschenken einlädt.
Im Herbst 1949 schrieb Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, einen sehr anrührenden Text. Er soll am Ende dieses Beitrages stehen, weil er so viele Aspekte unseres Themas aufgreift und miteinander verbindet: Es geht um die Menschen, um die Natur, um tief empfundene Anteilnahme an ihrem Leid; darum, dass alles Geschaffene miteinander verbunden ist; darum, Teil von etwas Größerem zu sein. Und es geht um das Wissen, mit Gott verbunden zu sein, in seinem Namen handeln zu können; im Namen eines Gottes, der selbst verstörende Einsamkeit erlebt hat, das Ende seiner liebevollen Verbundenheit mit dem Vater. Das Matthäusevangelium berichtet, wie er seine Einsamkeit hinausschrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46).
Chiara Lubich schrieb: „Herr, gib mir alle, die einsam sind … Ich habe in meinem Herzen die Leidenschaft empfunden, die dein Herz überkommt angesichts all der Verlassenheit, in der sich die ganze Welt bewegt.
Ich liebe jedes Wesen, das krank und einsam ist. Selbst die Pflanzen, die leiden, schmerzen mich … auch die einsamen Tiere.
Wer tröstet sie in ihrem Weinen? Wer nimmt Anteil an ihrem langsamen Sterben? Und wer drückt die verzweifelten Herzen an sein Herz?
Mein Gott, lass mich in der Welt greifbares Sakrament deiner Liebe sein, deines Liebe-Seins: Lass mich deine Arme sein, die alle Einsamkeit der Welt an sich ziehen und in Liebe verwandeln.“
Peter Forst

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2022)
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