4. April 2022

Blumen im Himmel

Von nst5

Die bulgarische Stiftung „Ela i ti” (Komm auch du)

hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit Behinderungen besondere Momente zu schenken. Jüngstes Beispiel: eine von ihnen gestaltete Präsentation ihrer Heimatstadt Sofia.

Alle Fotos: (c) ELA I TI (Komm auch du)-Stiftung

„Die Sterne sind wie die Blumen – nur im Himmel,“ meint Silviya, und man sieht ihr die Freude über diese Erkenntnis an. Nach ihrem Besuch in der nahegelegenen Sternwarte hatte sie mit Dessi und Hassan im Stadtpark der bulgarischen Hauptstadt Sofia gesessen. In der Sternwarte hatten sie den Sternenhimmel angesehen, im Stadtpark die Blumen bewundert. Jetzt, zwei Wochen später, treffen sie sich im Zentrum „Mariä Verkündigung“ der Caritas wieder – und hier stellt Silvija diesen verblüffenden und berührenden Zusammenhang her.

Silviya, Dessi und Hassan sind Teil einer Gruppe von Menschen mit einer Behinderung, die im Laufe des Sommers 2021 zusammen mit ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern einige Sehenswürdigkeiten ihrer Stadt besucht haben. Anschließend haben sie ihre Eindrücke festgehalten – mit Worten, Bildern, Skulpturen und sogar Liedern. Doch damit nicht genug: Auf der Website way-to.org/de haben sie ihren Blick auf die Stadt Sofia allen zugänglich gemacht – auch auf Deutsch.
„Mein Sofia – eine etwas andere Perspektive“ heißt das Projekt der Stiftung „Ela i ti“ (Komm auch du). Sie wurde 2017 gegründet und hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit Behinderung ganz besondere Momente zu ermöglichen (siehe unten).
Eine weitere Station auf dem Weg, ihre Stadt zu erkunden, ist die „Rundkirche St. Georg“, das älteste Gebäude von Sofia. Dessi äußerte sich nach dem Besuch so: „Eine Kirche, groß, mit vielen Sachen und Ikonen. Die Ikonen selbst sind sehr schön. Mir hat die weiße Ikone der Muttergottes mit dem jungen Jesus gefallen.“ Und dann kommt wieder so eine anrührende Aussage, wie sie sonst wohl nur Kinder machen: „Am meisten hat mir gefallen, dass sie ihr Baby umarmt.“

Gergana Doytschinowa

Nachdem Dessi, Silvija, Hassan und ihre Freundinnen und Freunde Valentin, Yavor, Nikolay, Velislava, Petko, Vera und Marija sich mit der Kirche und ihrer Geschichte vertraut gemacht haben, halten sie ihre Einsichten und Empfindungen in Bildern fest.
Gergana Doytschinowa ist die Gründerin der Stiftung. Seit ihrer Jugend ist die heute 50-Jährige sozial engagiert. Das Wichtigste im Leben sei die Beziehung von Mensch zu Mensch. Davon ist Gergana überzeugt. „Und es lohnt sich, dafür etwas einzusetzen.“ Die reiche, jedoch oft verborgene Welt der Menschen mit Behinderungen hat sie dazu inspiriert, das Projekt „Mein Sofia – eine etwas andere Perspektive“ zu entwickeln. Gergana: „Es ist ein Versuch, auf eine ungewöhnliche Art und Weise auf unsere Stadt zu blicken. Wenn wir diesen Menschen die Hauptrolle überlassen, helfen sie uns, das wahrhaftig Wertvolle zu sehen.“

So auch am Largo, eine weitere von der Gruppe besuchte Sehenswürdigkeit. Im engeren Sinne bezeichnet Largo drei in den 1950er-Jahren errichtete Gebäude des „sozialistischen Klassizismus“, im weiteren Sinne das ganze Areal um den Platz der Unabhängigkeit mit seiner charakteristischen gelben Pflasterung. „Largo – das ist unsere Geschichte. Mit Zögern und Charme“, so die etwas rätselhafte und doch ausdrucksstarke Reaktion von Petko auf den zentralen Platz der bulgarischen Hauptstadt.
Nächste Station ist das Denkmal für den bulgarischen „Apostel der Freiheit“, Wassil-Lewski (1837-1873). „Er wollte Bulgarien befreien und wurde von den Türken gehängt. Die Leute mögen kommen, um Blumen niederzulegen“, so der Vorschlag von Silvija und Petko ergänzt: „Er wird ewig über Bulgarien wachen.“
„Es gibt Dinge, die man nicht mit Worten beschreiben kann,“ meint Silvija, als sie zu ihrem Eindruck nach dem Denkmal gefragt wird. Dem kann man nur zustimmen. Wer sich die Fotos und Videos auf der Website anschaut, erahnt, wie facettenreich Silvija und ihre Freundinnen und Freunde die verschiedenen Orte wahrgenommen haben und ihre Empfindungen und Lernerfolge verarbeiten und weitergeben.

„Mein Sofia“ ist nur eine von vielen Initiativen von „Komm auch du“. Die Stiftung ist für vielfältige und ungewöhnliche Aktivitäten mit benachteiligten Menschen bekannt. Ihre Tätigkeit begann mit der Verarbeitung von Plastikabfall in Gürtel und Taschen. 2018 rief sie das Projekt „Über die Grenzen hinaus“ ins Leben. Mit der Hilfe von 160 Freiwilligen hat sie seither 120 Menschen mit Behinderungen an schwer zugängliche Orte wie die Höhlen „Saevna Dupka“ und „Batscho Kiro“ gebracht. Sie erreichten den Skalovitec-Wasserfall mit Geländewagen und – auf Wasserrädern – die Vogelinsel im Batak-Stausee und scheuten dabei keinen Aufwand. Die große Zahl freiwilliger Helferinnen und Helfer finden sie über die Plattform „Time Heroes“ oder die sozialen Netzwerke.
Ein ganz besonderer Moment war, als sie drei Menschen auf Rettungsschlitten auf die Spitze des „Tscherni Wrach“ (Schwarzer Gipfel), des höchsten Berges des Witoschagebirges (2292 Meter) gebracht haben – gezogen von insgesamt 34 Helferinnen und Helfern auf Tourenski.
Einer von ihnen, ein gestandener Skitouren-Geher, sagte im Anschluss: „Alle Gliedmaßen haben und sie kontrollieren können; die Welt um sich herum sehen, hören und fühlen. Verstehen und verstanden werden. Klingt selbstverständlich! Es gibt Menschen, denen diese Fähigkeiten vorenthalten sind. Ich habe immer die Kraft und den Lebenswillen dieser Menschen bewundert. Verpassen Sie nicht die Gelegenheit, ihnen ein Stück von dem zu geben, was Sie haben und was diese Menschen nur durch Sie bekommen können.“

Alle Fotos: (c) ELA I TI (Komm auch du)-Stiftung

All das sind Momente großer Emotionen und für die Menschen mit Behinderung eine einmalige Chance, der Natur und Kultur ihrer Heimat zu begegnen. „Die Bedingungen dafür, dass diese Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, haben sich in Bulgarien deutlich verbessert, auch wenn viel zu tun bleibt“, meint Mario Nikiforov aus dem Team der Stiftung. „Doch solche Erlebnisse wird kein Staat der Welt organisieren können.“ Gergana ergänzt: „Das Lächeln auf den Gesichtern dieser Menschen ist das größte Geschenk.“
Das Projekt „Mein Sofia“ setzt einen neuen Akzent: Es ermöglicht den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, ihre Eindrücke und Erlebnisse zum Geschenk für andere zu machen. Die Freude von Silvija, Dessi, Hassan und den anderen war groß, als sie sich selbst im Internet sahen.
Ihr anfangs erwähntes Gespräch im Caritas-Zentrum ging übrigens noch weiter: „Gott hat die Sterne und die Blumen geschaffen“, meint Hassan. Silyija ergänzt: „Wir Menschen haben den Garten und das Teleskop geschaffen.“ – „Und so können wir Sterne und Blumen beobachten“, fügt Dessi hinzu und strahlt.

Logo der Ela i ti (Komm auch du)-Stiftung

Die Stiftung “Komm auch Du”
„Mein Sofia – eine etwas andere Perspektive“ ist eine der jüngsten Initiativen der bulgarischen Stiftung „Ela i ti“ (Komm auch du), die 2017 gegründet wurde. Mehrere ihrer Projekte wurden von der Stadt Sofia unterstützt und die Freiwilligen-Plattform „TimeHeroes“ zeichnete die Stiftung 2018 in der eigens für sie geschaffenen Kategorie „Mutiger Ansatz“ aus.
way-to.org/de
Peter Forst

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2022)
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