4. April 2022

Gottesbegegnung im Milieu

Von nst5

In Zürich gehen Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf mit vielen Helfern

an die Ränder und suchen die Begegnung mit Obdachlosen, Prostituierten, Drogensüchtigen.

Ein Wintertag im Januar. Ankunft um 16.45 Uhr an der Molkenstraße 8 beim Helvetia-Platz in Zürich. Wie jeden Abend finden sich hier freiwillige Helferinnen und Helfer ein. Ein buntes Völkchen aus unterschiedlichen Altersgruppen und Schichten, wie jene Frau, die in einem Finanzinstitut arbeitet und regelmäßig einen Abend die Woche herkommt. Während sich die einen noch grüßen, bringen andere aus einem Lagerraum im Kellergeschoss schon Handwagen herauf. Sie sind gefüllt mit Lebensmitteln, Getränken, Hygiene-Artikeln und Kinderspielzeug.

Foto: (c) Verein Incontro

Dann taucht auf dem Platz eine Frau in Schwesterntracht auf: Ariane Stocklin trägt einen blauen Überwurf über einem weißen Gewand. Ihr Auftreten ist freundlich und bestimmt; sie begrüßt die Freiwilligen genauso wie die Mütter mit Kindern, die hinzugekommen sind. Schwester Ariane – so wird sie genannt – begegnet allen auf Augenhöhe, erkundigt sich nach dem Befinden, hört zu, antwortet. Dass die 48-Jährige auch organisatorisches Talent hat, wird in den kurzen Aufträgen, die sie fast wie nebenher erteilt, deutlich. Das braucht sie wohl auch. Jeden Abend mit wechselnden Freiwilligen zwischen 250 bis 400 Mahlzeiten an Obdachlose, Prostituierte, Drogensüchtige, Flüchtlinge und „Gestrandete“ verteilen – das ist keine Kleinigkeit.
Pfarrer Karl Wolf kommt hinzu, versammelt die freiwilligen Helferinnen und Helfer in einem Kreis und fragt: „Wie geht es euch? Es ist ziemlich kalt heute; frisch!“ Das Briefing vor dem Einsatz umfasst notwendige Informationen zu den verschiedenen Aufgaben und hilfreiche Hinweise: „Wer häufiger auf die Gasse geht, muss immer mal wieder seinen Blick schärfen und die Scheuklappen ablegen. Wir brauchen eine ganz unvermittelte Wahrnehmung und einen weiten Horizont für die Begegnungen. Ein Motto ist dabei wie ein Knoten im Taschentuch, damit wir das nicht vergessen. Mit welchem Motto wollen wir heute auf die Gasse gehen?“, fragt Pfarrer Wolf. Eine Freiwillige sagt spontan: „Frisch bleiben!“ Alle sind einverstanden.

Foto: (c) Verein Incontro

Die Kolonne zieht mit den Handwagen los. Das Ziel liegt nur ein paar Ecken entfernt: Auf kleinen Straßen geht es hinter das 25-Hours-Hotel. In einer Seitenstraße – auf der einen Seite die Bahngleise auf der anderen ein modernes Hochhaus – stehen schon Männer, Frauen und Kinder in einer dichten, langen Reihe und warten. Ihre Gesichter hinter Masken und unter Mützen lassen verschiedene Hautfarben erkennen; sie sprechen verschiedene Sprachen, warten geduldig. Schwester Ariane meint, dass Menschen aus über 50 Nationen kommen.
Die Handwagen werden in einer Reihe aufgestellt – wie ein Buffet in einer Mensa. Die Freiwilligen sind bereit. Die Menschen werden begrüßt, bedient, beraten. Begegnung ist der Kern der Arbeit – und so lautet auch der Name des Vereins „Incontro“ (dt. Begegnung), den Schwester Ariane 2001 gegründet hat. Zunächst hat sie Kinder- und Jugendarbeit gemacht. Erst später – seit vier Jahren – und verstärkt seit Beginn der Corona-Pandemie ist die Theologin, die als Gott geweihte Schwester in der Welt lebt, in die Gassenarbeit eingestiegen. Alleine begann sie auf der Langstrasse auf und an zu gehen und Beziehungen aufzubauen. Gemeinsam mit Pfarrer Karl Wolf aus Küsnacht, einem Freund der Gemeinschaft St’Egidio und vielen Freiwilligen haben sie die Aktion „Broken-Bread“ (dt. geteiltes Brot) begonnen. Was mit einigen Taschen voller Lebensmittel im ersten Lock-Down begonnen hat, hat sich zu einem täglichen Dienst entwickelt, der Mensa auf der Gasse.
Schwester Ariane lebt mit den Menschen am Rande der Gesellschaft, besucht sie, sorgt für eine warme Mahlzeit, hat ein offenes Ohr, spendet Trost und leistet Seelsorgearbeit. Das ist für sie Berufung. Das unterstreicht auch ein kurzer Text, der auf der einfach gestalteten Homepage 1 des Vereins steht und der mit „Leben in Fülle“ überschrieben ist:

Schwester Ariane Stocklin mit Pfarrer Karl Wolf. – Foto: (c) Verein Incontro

„Meine Leidenschaft:
Hinausgehen – so wie es Jesus gemacht hat. Den Menschen suchen, der am Rande ist: verkannt, ausgestoßen, verlassen, vergessen.
Ihm begegnen. Von Herz zu Herz. Auf Augenhöhe.
Ihn annehmen. Mit Wärme. Mit Zärtlichkeit. Mit allem, was zu ihm und seinem Leben gehört: Licht und Schatten.
Den wunderbaren Kern eines jeden entdecken. Staunen. Mich an ihm freuen.
Mich an seine Seite stellen. Miteinander den Weg gehen. Schritt für Schritt.
Da-sein. So wie es Gott macht.
Freundschaft mit den Menschen und mit IHM.
Das ist für mich Leben in Fülle.“

Hinter dem 25-Hours-Hotel kommt Bewegung in die Menge: Einer nach der anderen geht an den aufgereihten Handwagen vorbei, sagt, was er oder sie braucht. Man duzt sich und blickt sich in die Augen. Ein Shampoo, eine Handcreme, Taschentücher, eine Zahnbürste, Seife? Warme Mahlzeiten, Brötchen, Getränke, Lebensmittel? Warme Jacken, Stofftiere für die Kinder?
Eine junge Schweizerin, die vorbeikommt, sagt verstohlen und wie nebenbei: „Ich bin obdachlos.“ Sie bedankt sich von Herzen für die Zahnpasta und die Body-Lotion. – Ein Mann mit südamerikanischem Aussehen lässt sich Nahrungsmittel zum Kochen geben, bedankt sich mit einem Lächeln und fragt: „Seid ihr morgen wieder da?“ – Eine ältere Frau mit ihrer Tochter sucht nach einem Duschmittel. Ihre Augen strahlen, als sie das Gewünschte erhält. – Auch für die Kinder gibt es etwas: Nach längerem Schauen und Erwägen wählt die kleine Myriam einen lustigen Stoff-Pinguin aus. Sie schließt ihn sofort in ihre Arme und springt freudig zur Mama. – Ein groß gewachsener, tätowierter Bursche hat sich schon verschiedene durchsichtige Säckchen mit Lebensmitteln gefüllt und umgehängt. „Wer kann mir helfen, das alles nach Hause zu tragen?“, fragt er etwas aufgeregt. – Der ältere Mann mit Bart spricht gebrochen Englisch und erkundigt sich nach gesundem Fruchtsaft und frischem Gemüse, doch das fehlt heute.

Foto: (c) Verein Incontro

Das Angebot besteht aus dem, was an Spenden ankommt oder was der Verein mit Geldspenden kaufen kann. Vieles wird in den Pfarreien der Stadt gesammelt. Die warmen Mahlzeiten sind teils Spenden oder werden von Gastronomiebetrieben zum Selbstkostenpreis an den Verein abgegeben.
Die Stimmung in der Straße ist gut, fast ein wenig festlich. Freude liegt in der Luft. Es wird gelacht. Schwester Ariane macht sich mit zwei Freiwilligen und einem Handwagen gefüllt mit Mahlzeiten und Getränken auf die „Bordell-Tour“. Als sie ins Rotlicht-Milieu kommen, halten schon einige Frauen Ausschau nach ihnen. Sie wissen: Schwester Ariane versteht sie.
„Eine Mahlzeit und ein Coca-Cola?“ – „Ja, gerne. Und auch noch für zwei andere Frauen, bitte. Mir geht es gar nicht gut, sie haben mir die Sozialhilfe gekürzt und wollen auch die Medikamente nicht mehr bezahlen …“ Eine andere Frau kommt hinzu. „Wie geht’s dir?“, fragt Schwester Ariane. – „Ich hatte Corona, jetzt geht es mir wieder besser.“ – „Ich gebe dir am Sonntag Vitamine“, verspricht Schwester Ariane. Sie hört allen zu. „Ich bin gesundheitlich ziemlich angeschlagen, jetzt habe ich meinen Teilzeit-Job verloren und weiß nicht, wie ich mich über Wasser halten soll. Zudem erlebe ich in meiner Familie grad mehrere Schicksalsschläge. Ich komme bald wieder ins ‚Primero‘ einen Kaffee trinken.“

Foto: Manuela Matt

Am Rande des Rotlicht-Milieus haben Schwester Ariane und Pfarrer Wolf vor zwei Jahren einen Begegnungsort eingerichtet: für Obdachlose, Menschen am Rand, Frauen und Männer aus dem Milieu, Suchtkranke; das „Primero“. Der Name ist angelehnt an den südamerikanischen Gruß „Primero Dios“, der so viel heißt wie „zuerst Gott“ – ein Ausdruck von tiefstem Vertrauen.
Ein heller, warmer, freundlicher Raum lädt zum Verweilen ein; zu Begegnung, Austausch, Spielen, zu Kaffee und Kuchen oder einem Abendessen. Zudem gibt es hier einmal wöchentlich gratis ärztliche Behandlung und im „Primero Atelier“ an derselben Straße kostenlose Deutschkurse in verschiedenen Lernstufen und eine Schreibstube, die bei der Jobsuche und Bewerbungen hilft.

Foto: (c) Verein Incontro

Das Primero hat auch eine Kapelle: Dort kann man sich zurückziehen. Ein buntes Glasfenster prägt die Atmosphäre hier. Es ist die Kopie eines Fensters aus der Kirche „Il Rosario“ in San Salvador, der Kirche von Erzbischof Oscar Arnulfo Romero. Dort wurde er 1980 am Altar ermordet, weil er sich konsequent für die Armen eingesetzt hatte. Er und seine Theologie der Befreiung sind für Pfarrer Wolf und Schwester Ariane Inspiration und Kraftquelle. Mit den Freunden aus der Gasse feiern sie jeden Sonntagabend im großen Begegnungsraum eine Eucharistiefeier.
Schwester Ariane und Pfarrer Wolf selbst schöpfen die Kraft für ihren täglichen Einsatz auf der Gasse jeweils aus ihrer Begegnung mit Gott. „Am Morgen die Zeit für die Kontemplation: Da-Sein vor und mit Gott, das Evangelium, die Eucharistie. Von hier aus dann auf die Gasse gehen. Es ist immer der gleiche Christus, dem wir begegnen. Ob auf der Gasse oder in der Stille“, beschreiben sie diese Kraftquelle kurz und prägnant.
Zurück auf der „Bordell-Runde“: Die kleine Gruppe mit dem Mahlzeiten-Wagen zieht weiter. Eine Straße weiter strömen gleich fünf, sechs Frauen auf Schwester Ariane zu. Herzliche Begrüßung. Umarmungen. Eine Frau bringt ein Geschenk mit: eine kleine Statue der Jungfrau Maria. Schwester Ariane freut sich sehr und sagt: „Die kommt im ‚Primero‘ in die Küche.“ Ein junger Mann auf der Schwelle eines Hauseingangs sitzend ruft der Gruppe zu: „Ihr seid so gute Leute!“ Sagt’s, steht auf und verschwindet im Haus.

Foto: Manuela Matt

Im Weitergehen erzählt Schwester Ariane vom „System“. Sie spricht von Menschenhandel, Zuhälterei und Ausbeutung. Davon, dass die Frauen in den Bordellen oft nach Nationalitäten aufgeteilt sind: die aus Südamerika, aus Afrika, aus Osteuropa. Sie sieht die Realität, aber: „Wir haben zwei Wohnungen: Eine für obdachlose Männer und eine für Frauen, die aus dem Milieu aussteigen wollen. Zurzeit lebt eine Frau dort, deren Mann krank wurde und nicht mehr für den Unterhalt der Familie aufkommen konnte. Im nackten Überlebenskampf suchte die Mutter einen Ausweg in der Prostitution. Inzwischen ist der Mann wieder genesen und lebt mit ihr und einer Tochter in der Wohnung.“ Ein Hoffnungsschimmer am Horizont. Zumindest für diese Familie – und auch für Schwester Ariane.
„Was würde Jesus tun?“ Diese Frage hat sie in Interviews oft als ihr Leitmotiv benannt. Ihr Einsatz und ihr Leben zeigen, welche Antwort sie darauf gefunden hat und immer wieder neu findet: Er suchte die Menschen auf und ging ihnen nach bis an die äußersten Ränder – in den Bordellen, auf den Drogenplätzen, in den dunklen Winkeln der Gassen. So gesehen und gelebt, bekommt das Wort „Incontro“ einen tiefen Sinn.
Evelyne Maria Graf

1 www.incontro-verein.ch

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2022)
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