4. Mai 2022

Es braucht ein Wunder!

Von nst5

Giovanni Guaita

Foto: privat

ist Italiener und lebt seit 36 Jahren in Moskau. Er ist Priester und Mönch der russisch-orthodoxen Kirche und unterrichtet Kirchengeschichte an einer orthodoxen Universität. Seine Pfarrei liegt im Zentrum der Hauptstadt. Während seiner Zeit in Russland hat er viele Umbrüche miterlebt – vom Ende des Sowjetregimes über die Perestroika bis zu Putin.

Vor über fünf Wochen sind russische Truppen in der Ukraine einmarschiert. Trotzdem geht für die meisten hier in Moskau der Alltag fast normal weiter. Bisher müssen wir nicht für Mehl, Zucker oder Reis anstehen. Durch den Verfall des Rubels gingen jedoch Ersparnisse verloren; das Leben ist teuer geworden.
Dass alles fast unverändert weitergeht, ist besorgniserregend. Es zeigt, wie wenig das soziale Gewissen ausgeprägt ist. Wenn irgendwo ein Krieg ausbricht, wissen in Italien oder Deutschland alle gleich Bescheid und bilden sich eine Meinung. Hier herrscht schockierende Gleichgültigkeit.
Was geschieht, ist ein Verbrechen gegen die Menschheit, ein Wahnsinn! Die vielen Opfer auf beiden Seiten. Die Zerstörung ganzer Städte. Es wird Jahrzehnte dauern, bis wieder aufgebaut ist, was in kurzer Zeit zerstört wurde, mit katastrophalen Folgen für die Wirtschaft beider Länder.
Als Priester und Mönch der russisch-orthodoxen Kirche bin ich auch darüber bestürzt, dass die Kirche nach 30 Jahren der Freiheit aus moralischer und pädagogischer Sicht versagt hat. Schon seit den letzten Jahren des Sowjetregimes hat keiner die Kirche behindert. Wir konnten Bibeln drucken, Tausende Kirchen und Klöster bauen oder wieder aufbauen, theologische Fakultäten eröffnen. Trotzdem ist die Bilanz negativ, wenn die Mehrheit der Bürger – zumeist orthodoxe Christen – nicht in der Lage ist, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, nicht einmal wenn es so offensichtlich ist. Wir haben Kirchen aus Steinen erbaut, den Menschen aber nicht das ABC des Christseins vermitteln können, angefangen bei der Liebe zum Nächsten. Das ist für mich das Allerschmerzlichste – neben den Opfern und der Zerstörung.
Ich bin sehr beeindruckt von all dem, was Europa tut, die Aufmerksamkeit, die großzügige Aufnahme von Flüchtlingen … Aber ich bin sehr besorgt über eine gewisse Oberflächlichkeit und Ungerechtigkeit in der Berichterstattung über „die Russen“. Da wird oft nicht unterschieden zwischen Regierung und russischem Volk. Es entwickelt sich eine „Russen-Phobie“. Das wird denen nicht gerecht, die hier mit großem Mut verurteilen, was passiert. Es gibt eine kleine, wachsende und unter den Umständen beachtliche kritische Minderheit. Diese Russen bringen ihre Missbilligung zum Ausdruck. Oft werden sie festgenommen, zu hohen Geldstrafen verurteilt, verlieren ihre Arbeit oder können nicht weiterstudieren. Die westliche Haltung verletzt sie und schadet.
Das gilt auch für die Sanktionen. Sie haben nicht nur Auswirkungen auf die Regierenden und Oligarchen, sondern treffen vor allem die Armen. Bald haben wir kein Insulin mehr oder Mittel gegen Epilepsie. Was können die sterbenden Kinder im Hospiz, in dem ich arbeite, für die Aggressionen?
Die Gewalt zu beenden wird nicht einfach sein. Die russischen Truppen müssen die besetzten Gebiete verlassen, man muss Zerstörtes wieder aufbauen, die schrecklichen Ereignisse bewerten. Vor allem aber muss man sich der Logik des Hasses und der Vergeltung entziehen. Da braucht es ein echtes Wunder. Auch wenn wir alles tun, was in unserer Macht steht, um Frieden zu schaffen, können wir unsere Hoffnung da nur auf Gott setzen. Aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass er in die Geschichte eingreift.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2022)
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