4. Mai 2022

Kommunizierende Röhren

Von nst5

Ab und zu überraschen wir Sie.

Manchmal gewollt, manchmal unbeabsichtigt. Dieses Mal war es unvermeidbar. Nach dem 24. Februar konnten wir unmöglich beim angekündigten Schwerpunktthema „Pflege“ bleiben. Zu groß war die Erschütterung. Zu viele Gewissheiten waren mit einem Mal zerplatzt, wie Clemens Behr eindrücklich beschreibt.

Auf bedrückende Weise bekommen wir seitdem vor Augen geführt, wie sehr alles mit allem verbunden ist: Energieversorgung, Lieferketten, auch von Nahrungsmitteln, Rüstungsfragen, Geldströme, Klima- und Sicherheitsfragen. Bis hin zur schrecklichen Erkenntnis, dass noch so viele den Frieden wollen können, wenn auch nur einer nicht mitmacht, ist dennoch Krieg.

Foto: (c) borchee (iStock)

Sicher, es gibt die Solidarität so unendlich vieler Menschen, die Gebetsketten über Grenzen hinweg, den Einsatz der Politiker fast rund um die Uhr, … Trotzdem habe ich in diesen Wochen öfter gegen das Gefühl von Hilflosigkeit, gegen Wut und Resignation angekämpft. Was kann ich tun angesichts all des Schrecklichen, das Menschen in Kriegs- und Krisengebieten – nicht nur in der Ukraine – erleben?
Wie so häufig hat mir ein Bild geholfen: Kennen Sie das Prinzip der kommunizierenden Röhren? In den nach oben offenen, aber unten miteinander verbundenen Röhren steht die Flüssigkeit an allen Stellen gleich hoch, egal wo man etwas einfüllt. Der Pegel gleicht sich aus – sogar wenn die Gefäße ganz unterschiedliche Formen oder Durchmesser haben.
Das kam mir auch in den Sinn, als ich gelesen habe, was Zuzana Hanusová und Martin Hanus berichten. Sie erleben privat und beruflich, dass wir mehr als alle Generationen vor uns über Ländergrenzen hinweg Freundschaften knüpfen und leben konnten. Auch damit rückt uns nahe, was anderswo passiert.
Wir Menschen sind weit über das Offensichtliche hinaus miteinander verbunden. Weltweit. Was also, wenn auch die noch so kleinen Gesten der Menschlichkeit, die ich in meinem Umfeld lebe, nicht verlorengehen, sondern in diesem unsichtbaren System der kommunizierenden Röhren verbleiben? Es ist eine schöne Vorstellung, dass ich so dazu beitragen kann, mit jedem Akt der Menschlichkeit den Wasserstand für alle ein klein wenig zu heben. Und zu wissen, dass ich auch von dem lebe, was  Giovanni Guaita in Russland und Mira Milavec in der Ukraine in dieses System einbringen. Sogar wenn andere etwas daraus abzapfen.
Ist das nicht Antrieb genug, das kleine Zeichen von Menschlichkeit zu setzen, das mir jetzt möglich ist?
Und so bleibe ich auch mit Ihnen unterwegs durch die kommenden Wochen,

Ihre

Gabi Ballweg

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(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2022)
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