4. Mai 2022

Wir haben keine Zeit!

Von nst5

Mira Milavec

Foto: privat

arbeitet für die Caritas der Ukraine. Die gebürtige Slowenin lebt seit gut drei Jahren in der Fokolargemeinschaft von Kiew. Wenige Tage nach Beginn des Krieges haben die vier Frauen die ukrainische Hauptstadt verlassen müssen und leben seither in der westukrainischen Provinz Transkarpatien.

Was die Ukraine gerade durchlebt, ist kein Krieg. Es ist viel schlimmer. Ein Krieg hat Regeln. Die russische Armee aber hält sich nicht an diese Regeln. Es ist ein Krieg vor allem gegen Zivilisten. Das hat sich in aller Grausamkeit in den Gebieten gezeigt, aus denen sich die russischen Soldaten zurückgezogen haben. Welche schrecklichen Entdeckungen werden wir noch machen?
Viele Menschen sind weiter in akuter Gefahr – im Augenblick besonders im Osten der Ukraine. Als Caritas-Mitarbeiterin ist eine meiner Haupttätigkeiten gerade, Menschen zu helfen, in sichere Gebiete zu fliehen. Manchmal gelingt es, oft nicht. Da es so gut wie keine offiziellen Fluchtkorridore gibt, ist es sehr gefährlich. Selbst auf Flüchtlinge wurde schon geschossen!Oft können die Menschen nicht mehr klar denken; der Stress und die Angst wegen der Alarme und Bombardierungen sind einfach zu groß. Kürzlich habe ich versucht, einer Mutter mit ihrem Kind zu helfen, eine belagerte Stadt zu verlassen. Am Telefon musste ich ihr jeden Schritt erklären: „Geh aus dem Haus. Halte Ausschau nach einem Auto, das die Stadt verlässt. Frage, ob ihr mitfahren könnt.“
Eine weitere Aufgabe für mich ist zu ermöglichen, dass Hilfsgüter an die Orte kommen, wo die Menschen nichts mehr haben. Das verlangt großen Mut von denjenigen, die die Transporte übernehmen. „Jetzt ist nicht die Zeit Geschäfte zu machen, sondern einander zu helfen“, sagte mir ein LKW-Fahrer, als ich ihn für einen Transport bezahlen wollte.
Eines habe ich in diesen Wochen gelernt: nicht zu zögern. Wenn ich nicht sofort handle, kann es zu spät sein. Wir sprechen wenig über den Krieg. Und doch begleiten mich ständig Gedanken: Wie konnten wir es als Weltgemeinschaft zulassen, dass es so weit kommt? Dass ein Leben nichts zählt; dass Menschen in einem System groß werden, das sie zu solcher Grausamkeit fähig macht. Es macht mich traurig, dass die russische Armee ihre toten Soldaten oft einfach zurücklässt. Da ist es berührend zu sehen, dass es ukrainische Geistliche gibt, die auch russische Soldaten begraben.
Jetzt ist Zeit zu helfen, aber auch Zeit für die Wahrheit. Viele wissen nicht, was hier passiert – oder wollen es nicht wissen. Putin verwirklicht seine Träume vom großen russischen Haus, von denen er oft genug gesprochen hat.
Von hier aus gesehen wirkt es oft, dass die westlichen Länder zu lange warten, bevor sie reagieren. Jeden Tag sterben hier Menschen! Natürlich: Es gibt vieles zu bedenken, niemand will, dass der Krieg sich ausweitet – aber tut schnell, was ihr tun wollt.
Und: Gewöhnt euch nicht an den Krieg! Bleibt nicht Beobachter. Es gibt so viele Möglichkeiten, etwas zu tun: den Frieden im eigenen Herzen stärken; den Streit mit dem Nachbarn beenden; Flüchtlingen helfen und ihnen zuhören; gegen den Krieg auf die Straße gehen und für den Frieden beten, …
Mir gibt die persönliche und gemeinschaftliche Vergewisserung im Gottesdienst viel Kraft. Sie hilft mir, immer wieder den Frieden in mir zu finden, die Feinde lieben zu wollen und für sie zu beten. Gott ist da. Niemand kann ihn töten. Und er wirkt.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2022)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München

teilen teilen