1. Juni 2022

Bedürfnisse wahrnehmen

Von nst5

„Auf dich kann man sich verlassen!“

Wer Zusagen und Termine einhält, genießt hohes Ansehen. Aber: Ist Verlässlichkeit das Allerwichtigste? Oder brauchen nicht auch spontane Entscheidungen ihren Platz? Wie wichtig ist Verlässlichkeit in einer Familie, für eine Freundschaft oder eine Partnerschaft?

Luisa Gaube
Studentin, Ottmaring
„Ich habe verstanden, dass ohne Barmherzigkeit Gerechtigkeit vollkommen sinnlos ist. Sie ist nichts als leere Worte.“ Dieses Zitat aus dem Film „Die Liebe, die heilt – Professor Moscati: Arzt und Engel der Armen“ ist mir zu dieser Frage gleich in den Sinn gekommen. Denn wie Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit sinnlos ist, kann wahrscheinlich auch Verlässlichkeit als bloße Pflichterfüllung nicht vollkommen ihren Sinn erfüllen. Es ist im Gegenteil doch viel schöner, mit Freude und aus Wertschätzung für den anderen unsere Versprechen einzuhalten, die Bedürfnisse des anderen wahrzunehmen und so Beziehung zu schaffen.
Sein Wort zu halten, sehe ich als äußerst bedeutsam an, nicht nur damit die eigene Glaubwürdigkeit nicht leidet, sondern eben auch, damit sich andere auf uns, wie das Wort Verlässlichkeit schon sagt, verlassen können und ihr Vertrauen in uns nicht enttäuscht wird. Kann allerdings die Pflicht nicht mit der vorhin beschriebenen Haltung erfüllt werden, kann es vielleicht auch einmal sinnvoll sein, Termine abzusagen und sich selbst mehr Freiraum zu geben. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass dabei die Verlässlichkeit leiden muss: Zuverlässigkeit kann auch bedeuten, rechtzeitig Termine abzusagen und gut zu planen.

Paul Schmid
Psychiater und Psychotherapeut, Baar
Ich bin gern zuverlässig und pünktlich, wie man sich dies von einem „guten Schweizer“ wohl auch erwartet. Und doch ist selbst die so positiv anmutende Verlässlichkeit nur ein relativer Wert. Sie kann ins Negative umschlagen, wenn sie eingefordert wird, um Unrecht zu überdecken. Ich habe das selbst vor vielen Jahren erlebt: 1984 arbeitete ich als Assistenzarzt in einem Spital in Bern. Damals sagte mir mein Chefarzt, er erwarte, dass ich täglich 12 bis 14 Stunden arbeite. Ich blieb still, dachte aber bei mir: „Das ist nicht richtig. Das will Gott nicht von mir!“ Es hätte mein Leben in der Fokolar-Gemeinschaft und auch ehrenamtliches Engagement so gut wie unmöglich gemacht.
Prompt wurde mir bei erster Gelegenheit gekündigt. Damals lebten wir das Wort des Lebens: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten gereicht“ (Römer 8,28). Ich glaubte daran und fand sehr bald eine Stelle in Lausanne und dann auch meinen Beruf.
Ich wünsche mir, dass heute auch in anderen Bereichen Tätige ähnliche Erfahrungen machen können – etwa in der Finanz-Beratung tätige Angestellte, deren Firma stillschweigend erwartet, dass sie ihre Überstunden nicht aufschreiben. Hier kann vermeintliche Verlässlichkeit schnell zu einer „strukturellen Sünde“ werden.

Gertrude Pühringer
Lehrerin, Engerwitzdorf/Linz
Ich kann mich noch gut erinnern, als ich vor fast 24 Jahren den gemeinsamen Weg mit meinem Mann begann: Ich war jung, voller Tatendrang und stets unterwegs. Nicht dass ich planlos war, aber ich liebte es, spontan und ungebunden zu sein. Da hatte es mein Mann nicht leicht mit mir, denn er liebte ein eher geplantes Leben, in dem genügend Zeit für unsere beginnende Freundschaft war.
Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Ich habe gelernt, dass man sich an Termine im Terminkalender hält, diesen allerdings nicht vollstopft. Ich muss nicht überall zusagen, sondern kann ruhigen Gewissens mal „Nein“ sagen, auch mit dem Risiko, andere mit meiner Entscheidung zu enttäuschen. Andererseits hat mein Mann von mir gelernt, dass man Geplantes mal über Bord werfen kann. Wichtig ist, dass wir uns aufeinander verlassen können – allerdings nicht darauf, dass geplante Aktivitäten stattfinden, sondern dass wir einander gernhaben.
Eine gewisse Flexibilität ist gerade in unserer heutigen turbulenten Zeit unabdingbar: Kürzlich wollten wir in den lang geplanten Familienskiurlaub fahren, aber der Jüngste bekam Corona. So blieb ich mit ihm zu Hause, während die anderen nach Salzburg fuhren. Natürlich waren wir traurig, aber wir haben das Beste aus der neuen Situation gemacht.

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(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2022)
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