2. Juni 2022

Leidenschaft für die Zurückgelassenen

Von nst5

Elizabeth Wallin gibt ehemaligen Gefängnisinsassen im US-Bundesstaat Indiana

Selbstvertrauen und die Kraft, ihr Leben in die Hand zu nehmen.

Alle Fotos: (c) Project Lia

„In den letzten fünf Monaten habe ich Dinge getan und Seiten an mir entdeckt, die ich nie für möglich gehalten hätte,“ sagt Zaynab Cornelius. Gerade hat sie einen Kurs für zukünftige Führungskräfte abgeschlossen und die Prüfung bestanden. Nur wenige Monate zuvor hatte es noch so ausgesehen, als ob ihr Leben dauerhaft in anderen Bahnen verlaufen würde. Zaynab bekam mit 14 ihr erstes Kind, sie hatte keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. Mit Ende 20 war sie dreifache Mutter und verkaufte Drogen.
Sie erreichte ihren Tiefpunkt, als sie – zu einer Bewährungsstrafe verurteilt – erneut beim Drogenhandel erwischt und schließlich aus ihrer Wohnung geschmissen wurde. Vorbestraft, obdachlos und verschuldet: Ihre Aussichten auf einen legalen Job waren gleich null. Jeder potenzielle Arbeitgeber würde herausfinden, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war.
Dann hörte sie vom „Project Lia“ im US-Bundesstaat Indiana, das Frauen und Jugendlichen ohne Schulabschluss hilft, sich ins Berufsleben einzugliedern. Es hat ihrem Leben eine Wende gegeben – und einigen anderen Frauen vor ihr auch.
Diese Veränderungen kommen nicht von allein, meint Elizabeth Wallin, die Gründerin vom Project Lia. „Für manche ist es schon ein großer Entwicklungsschritt, jeden Morgen pünktlich zu erscheinen. Ich vermittle ihnen Grundkenntnisse in verschiedenen handwerklichen Tätigkeiten wie Holzbearbeitung, Nähen oder Möbel renovieren, aber vor allem unterstütze ich sie dabei, ihrem Leben eine Struktur zu geben und Selbstvertrauen zu entwickeln.“

Als Elizabeth Wallin – oder Liz, wie ihre Freunde sie nennen – die Projektidee entwarf, war sie gerade von einem Argentinien-Aufenthalt zurückgekehrt. Die interkulturelle Gemeinschaft, die sie dort mit anderen jungen Erwachsenen erlebt hatte, hat sie tief geprägt. Und: „Ich hatte erlebt, wie die Menschen dort schwierige wirtschaftliche Bedingungen gemeinsam meistern. Persönlich habe ich eine tiefe Freude erfahren, wenn ich mich nicht auf mich selbst konzentrierte, sondern anderen helfen konnte.“
Auch ein Praktikum bei dem mittelständischen Unternehmer John Mundell in Carmel, Indiana, war für Liz rückblickend sehr inspirierend. Hier lernte sie, wie sehr Unternehmer ihre Umgebung verändern können: Produkte oder Dienstleistungen helfen, Probleme zu lösen; Arbeitsplätze bringen nicht nur Einkommen, sondern stiften Sinn, helfen Menschen, sich zugehörig zu fühlen, und geben dem Leben Würde. Der Unternehmer John Mundell hat seinen Betrieb, der Industrieflächen säubert und renaturiert, an den Prinzipien der „Wirtschaft in Gemeinschaft“ ausgerichtet – eine Initiative der Fokolar-Bewegung, die nun mit derjenigen des Papstes, „Economy of Francesco“, zusammenarbeitet. Ihr Ziel: eine gerechtere Wirtschaftsform zu verbreiten, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und die Ökologie nicht vergisst. Mundell hat in seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Unternehmer erfahren: Alles kommt darauf an, welche Beziehungen ein Unternehmen mit den Menschen in der Umgebung aufbaut.
Liz Wallin war erstmals mit inhaftierten Frauen in Kontakt gekommen, als sie während ihres Praktikums ein mögliches Projekt erarbeiten sollte. Bei einem Blick in die Statistik fand sie heraus, dass die Zahl der weiblichen Inhaftierten in den USA in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten von etwa 12 000 Frauen auf über 100 000 sprunghaft angestiegen ist. Wenn man die Zahl der Frauen, die in Untersuchungshaft sitzen oder auf Bewährung entlassen worden sind, mitzählt, steigt diese Zahl auf über eine Million.
„Ich stellte fest, dass das Strafrechtssystem Menschen nicht darauf vorbereitet, sich wieder erfolgreich in die Gesellschaft einzugliedern – stattdessen beginnt ein Teufelskreis, sodass der nächste Gefängnisaufenthalt schon vorprogrammiert ist.“

Angesichts der vielen Schwierigkeiten, die Frauen nach einer Haftstrafe bei der Arbeitssuche haben, kam ihr die Idee: Warum nicht ihre Leidenschaft für Holzarbeiten und den Wunsch, anderen zu helfen, zusammenbringen? Wallin hatte Kunstgeschichte und Wirtschaft studiert und schon damals aussortierte Möbel wieder zurechtgemacht. Viele Freunde hatten ihre Stücke bewundert und waren bereit, Geld dafür auszugeben.
So schlägt das Project Lia mehrere Fliegen mit einer Klappe: Es gibt den Teilnehmerinnen die Möglichkeit, auf legale Weise Geld zu verdienen. Außerdem können sie wieder einen geregelten Tagesablauf lernen, Herausforderungen meistern und kleine Erfolge feiern. Das macht Mut und hilft Frauen wie Zaynab, wieder eine Lebensperspektive zu entwickeln. „Sie lernen, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen“, beschreibt Wallin das Ziel von Project Lia. Normalerweise dauert das Training sechs bis zwölf Monate.
Die manuelle Arbeit mit Holz oder anderen Tätigkeiten, wie T-Shirt- und Plakatdruck, kommen den Bedürfnissen der Teilnehmerinnen entgegen: Sie müssen sich nicht erst lange einlesen, sondern können mit ihren Händen arbeiten. Das Projekt umfasst auch die Restaurierung von Möbeln. „Was andere wegwerfen, kann so zu einem Schmuckstück werden.“ Die jungen Menschen, die Liz trainiert, lieben dieses Motto. Es spiegelt ihre eigene Lebenserfahrung wider: Auch sie fühlen sich aussortiert, als wertlos beurteilt, nicht einmal in der Lage, die Schule abzuschließen.

„Wenn sie dann sehen, dass das weggeworfene Holz in ein schickes Käsebrett verwandelt werden kann, für das die Kunden bereit sind, 30 Dollar zu bezahlen, dann hat das einen heilenden Effekt: Auch sie können wieder wertvoll werden.“ Es braucht nur ein bisschen Kreativität, Aufmerksamkeit und Zeit.
In den USA werden viele inhaftierte Frauen in Armut und Obdachlosigkeit hinein entlassen. Zaynab sagt: „Ich konnte aufgrund meiner Vorstrafen keinen Job finden, der es mir ermöglicht hätte, eine Wohnung zu finden und für meine Kinder zu sorgen. Ich habe mich immer wieder beworben; das Vorstellungsgespräch lief gut und dann kam immer wieder die Antwort: ‚Wir können Ihnen den Job leider nicht geben, weil Sie vorbestraft sind.‘ Das tut weh.“
So versuchte sie es mit einem Studium, was in den USA viel Geld kostet. In der dritten Semesterwoche wurde sie von ihrem Lehrer aufgefordert, ins Sekretariat zu gehen: „Dort haben sie mir gesagt, dass ich mit meinen Vorstrafen nie eine Arbeit bekommen würde, und es wäre für mich sinnlos, weiterzumachen. Ich war im siebten Monat schwanger und hatte Geld und Zeit verschwendet.“
Nach der Geburt ihres dritten Kindes verlor sie auch ihre Wohnung; sie lebte auf der Straße, und das Sorgerecht für die Kinder wurde ihr entzogen.
Als sie von einem Sozialarbeiter an das Project Lia verwiesen wurde, begannen sich die Dinge zu ändern. Wallin half ihr bei der Wohnungssuche und zeigte ihr auch, wie sie Entscheidungen treffen und Ziele verfolgen kann. Dass sie handwerkliches Geschick besaß, gab ihr neues Selbstvertrauen. Und vor allem hat sie nun Hoffnung, dass sie mit ihren Talenten der Gesellschaft etwas geben und dazu ein Einkommen erwirtschaften kann. „Ich möchte mich selbstständig machen und für meine Kinder sorgen.“ Und: „Ich will dafür sorgen, dass andere darauf aufmerksam werden, welche Schwierigkeiten Menschen haben, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind.“
Insgesamt hat Project Lia bisher sieben Frauen den Weg in eine straffreie Zukunft gebahnt; Zaynab ist die achte. Mit sechs von ihnen ist Wallin noch in Kontakt, sie haben eine Arbeit oder verdienen als Selbstständige ihren Lebensunterhalt. Die meisten von ihnen hatten anfangs Mühe, für ihre Kinder zu sorgen oder waren in Gefahr, das Sorgerecht zu verlieren: „Der Stress einer solchen Situation erlaubte es ihnen nicht, rationale langfristige Entscheidungen zu treffen“, sagt Liz. „Das ist durch Forschungen belegt, aber unsere Strukturen berücksichtigen oft nicht die schwere Belastung durch chronischen Stress, den Menschen in Armut durchmachen.“

Sieht man nur auf die Zahlen, ist das Project Lia sehr klein. Doch es hat Liz wichtige Erkenntnisse geliefert: „Es macht bereits einen großen Unterschied, jemandem den Rücken freizuhalten und Struktur zu geben, aber auch Raum für Kreativität zu schaffen“, sagt sie. Die Frauen stünden oft vor großen Herausforderungen, wie etwa Geld aufzutreiben, um Gerichts- und Anwaltskosten zu bezahlen oder eine Wohnung zu finden. Da könne das Arbeitsumfeld im Project Lia überschaubare Aufgaben und kleine Erfolge bieten, die den Weg zur Lösung der größeren Herausforderungen ebnen.
Die Finanzierung des Projekts war jedoch eine beständige Herausforderung. Immer wieder musste Liz nach Geldgebern suchen, ihr Projekt bekannt machen und dazu am Wochenende die Produkte auf Stadtfesten verkaufen. Während sie anderen half, sich selbstständig zu machen, ging sie deshalb den umgekehrten Weg und entschloss sich, mit einem größeren Anbieter zusammenzuarbeiten, der jungen Menschen ohne Schulabschluss hilft. Sie ist nun Projektmanagerin und kann sich auf das konzentrieren, was sie am besten kann: andere zu unterrichten und ihnen zu helfen, persönliche Zielen zu erreichen: „Ich habe verstanden, dass meine Stärke ist, Menschen zu vernetzen und visionäre Ideen zu haben. Ich liebe es, anderen mit Geduld und persönlicher Zuwendung zu helfen. Aber ich bin nicht der Typ, der ständig Politiker und Entscheidungsträger überreden möchte, mehr Geld bereitzustellen.“

In Zusammenarbeit mit dem neuen Träger ihres Projektes kann sie nun die Holzwerkstatt und die Schneiderei, die sie in einem Industriekomplex in Indianapolis eingerichtet hat, richtig ausnutzen. Und sie hat selbst angewendet, was sie ihren Schülerinnen vermittelt: einen Entscheidungsfindungsprozess in Gang zu setzen, um herauszufinden, was man am besten kann und wie man arbeiten möchte.
Susanne Janssen



(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2022)
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