Schlechtes System, gute Beziehungen
Ulrike Comes
Ulrike Comes unterrichtet Mathe und Physik an einer Gesamtschule in Solingen. Im nächsten Jahr geht sie in Ruhestand. Nach 35 Berufsjahren kennt sie die Mängel des Schulsystems, hat sich aber auch Begeisterung für ihren Beruf bewahrt.
Spätestens in der Pandemie hat sich gezeigt: Kinder und Jugendliche sind unserer Gesellschaft nicht wichtig. Die Erwachsenen, die im Bildungsbereich arbeiten, übrigens auch nicht. Es fehlt an allem: saubere Toiletten, funktionierendes Internet, genügend Lehrpersonal, …
Nach vielen Jahren bin ich von zwei Dingen überzeugt: Das deutsche Schulsystem ist schlecht. Und: Die Notwendigkeit eines guten Systems wird überschätzt. Denn auch das beste System kann nicht garantieren, was wirklich gute Schularbeit ausmacht: Beziehungen. Die habe ich weitgehend selbst in der Hand – zu den Eltern, im Kollegium, mit den jungen Menschen.
Bei jedem Lehrer-Eltern-Kontakt begegnen sich zwei Welten: meine des Lernens und die der Familie. Wie oft bin ich von Eltern angefeindet worden, weil sie ihre eigenen Schulerfahrungen noch nicht verarbeitet hatten, meinten, Schule müsste einen Rundum-Service bieten oder aber in weitaus größeren Problemen feststeckten als der Mathenote ihres Sprösslings. Zuhören, Verständnis signalisieren, Absprachen treffen, all das hilft ungemein. Aber manchmal muss man auch Klartext reden und Grenzen aufzeigen.
Lehrkräfte sind meist Einzelkämpfer. Es ist manchmal schwer, sie zur Zusammenarbeit zu bewegen. Das Gefühl einer ständigen Überbelastung macht zusätzliche Treffen nicht attraktiver; Synergieeffekte werden nicht sofort gesehen. Ja, es erfordert Aufwand, in einer Klasse als Team zu arbeiten. Aber es lohnt sich. Einmal verabredeten wir uns im ersten Jahr der gemeinsamen Klassenleitung beinahe wöchentlich, um uns auszutauschen, Verabredungen zu treffen, Regeln aufzustellen, Arbeit zu verteilen. Manchmal trafen da Welten aufeinander, aber wir haben nicht lockergelassen, viel in Beziehungsarbeit investiert und teilweise überraschende Lösungen gefunden. Der Erfolg hat uns Recht gegeben, die Klasse ist bis zum Abschluss super gelaufen.
Die wichtigsten Beziehungen sind natürlich die zu den Schülerinnen und Schülern. Ich musste zu Beginn schmerzhaft lernen, dass ich nicht Kumpel, Mamaersatz oder Sozialarbeiterin bin, sondern dass sich meine Aufgabe zunächst auf das Lehren, die Schullaufbahnberatung und – in einem engen schulischen Rahmen – auf Erziehung beschränkt. Allerdings kann ich diese Aufgaben nicht erfüllen, wenn Spannungen herrschen, eine Schülerin vor Liebeskummer weint, ein anderer überzeugt ist, nie im Leben den Satz des Pythagoras zu verstehen und viele das Gefühl haben, sowieso keine gestaltbare Zukunft mehr zu haben. Dann muss ich doch ganz in die Rolle der Erzieherin schlüpfen: „Störungen gehen vor“. Bei allem Verständnis ist es aber wichtig, innere Distanz zu wahren; Schülerinnen und Schüler sind kein Kinderersatz. Sie brauchen mich als Gegenüber, das klare Vorgaben macht, sie einfordert und Konsequenzen durchzieht, sich aber auch mal entschuldigt, wenn etwas schieflief. Wenn Beziehungen im Mittelpunkt stehen, muss man das auch im Unterricht wahrnehmen: Ich bemühe mich, mehr darauf zu achten, wie Schülerinnen und Schüler lernen, als auf das Ziel – dass sie den Satz des Pythagoras können. Das macht es jedes Mal neu interessant, denn der Pythagoras hat sich in den letzten 40 Jahren nicht verändert, die jungen Menschen mit ihrer Art zu lernen durchaus.
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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