2. Dezember 2022

Ein stilles Bleiben

Von nst5

Der Tod mancher Menschen lässt sprachlos zurück –

oft auch nach Jahren noch. Ist das gut so? Oder sollte man sprechen? Was hilft dabei, es zu tun?

Katharina Wild
Theaterwissenschaftlerin, Köln
Im Theater liebe ich Momente der Stille und Sprachlosigkeit, weil darin etwas zum Vorschein kommt, was die Grenzen von Sprache und logischem Verständnis und Verstehen übersteigt. Schweigen und Verstummen geben Ungesagtem und Unsagbarem Raum.
So sehr ich mich im Leben auch mit dem Tod beschäftigen, so oft er mir begegnen mag: Selbst am Ende eines langen, beglückten Lebens reißt er eine Lücke, die Worte nicht füllen können. Reden kann helfen, den Verlust zu ertragen, die Isolation der Trauer zu überwinden. Vielleicht überdeckt Reden aber auch bisweilen eine wesentliche Erfahrung: dass angesichts von Tod und Sterben unser menschliches Denken an ein Ende stößt; dass nicht alles, was uns und anderen Menschen widerfährt, sich erklären, bearbeiten oder überwinden lässt; dass in manchen Momenten Stillbleiben – ein stilles Bleiben – gefragt ist.
Im letzten Jahr habe ich durch eine Krebserkrankung eine Freundin verloren. Mehr, als über ihren Tod zu sprechen, hilft es mir, im Geist mit ihr zu reden. Wenn ich sie vermisse, dann sage ich ihr das. Und bin in Gedanken eine Weile bei ihr. So fühle ich mich ihr auch nach dem Tod nah. Das schmerzt und tröstet zugleich.

Antonella Ritacco
Psychotherapeutin, Gengenbach
Jeder Verlust ist mit einem Gefühl der Traurigkeit verbunden; was sich unterscheidet, sind die Art des Verlustes und seine Verarbeitung. Manchmal ist der Tod absehbar und ermöglicht einen langsamen Abschied. Bei anderen kommt der Tod so plötzlich und unerwartet, dass vielleicht etwas ungesagt bleibt. Manche Todesarten sind unnatürlich und daher schwer zu akzeptieren, wie etwa der Tod eines Kindes vor den Eltern oder ein Unfall.
Ein normaler Trauerprozess dauert sechs bis zwölf Monate; er kann aber auch bis zu zwei Jahre andauern, wobei mehrere Phasen durchlaufen werden. Schwierigkeiten, die eigenen Gefühle auszudrücken, Schuldgefühle sowie Selbstvorwürfe und uneingestandene Gedanken können den Trauerprozess blockieren. Es kann schwierig sein, über den Tod eines geliebten Menschen zu sprechen; aber es ist notwendig, um die Vorstellung zu akzeptieren, dass das eigene Leben weitergeht und damit indirekt auch das des anderen. Briefe an den Verstorbenen können zu Beginn helfen, Worte zu finden; auch der Austausch mit anderen, die von ähnlichen Verlusten betroffen sind. Wichtig ist am Ende, die Realität zu akzeptieren und eine neue Beziehung zu dem Verstorbenen, aber auch zu sich selbst aufzubauen – jetzt ohne die sichtbare Gegenwart des anderen.

Martin Gögler
Pfarrer i.R., Ottmaring
Kürzlich sprach ich mit einer Frau, die ihren Vater verloren hat, als sie acht Jahre alt war. Ein Schock für sie, ihre beiden jüngeren Geschwister und für die Mutter. Die Frau erzählte: „Wir haben damals nicht viel geredet. Die Mutter sagte immer wieder zu uns: ‚Wir müssen beten.‘ Sie war sehr streng zu uns. Wir mussten jeden Sonntag in die Kirche gehen.“ Mit 20 habe sie dann aufgehört, zum Gottesdienst zu gehen. „Ich glaube auch nicht mehr an Gott. Ich wohne immer noch mit meiner Mutter zusammen. Die Beziehung ist sehr belastet, ja verhärtet. Bis heute kann ich mit ihr nicht über den Tod des Vaters reden.“
Ich habe ihr Erfahrungen aus der Trauerarbeit erzählt und angeregt, das Ganze noch einmal anzusprechen und aufzuarbeiten. Mit Hilfe. Sie meinte nur: „Wenn damals jemand, vielleicht auch von der Kirche dagewesen wäre, der uns in die Arme genommen und mit uns gesprochen hätte … Aber heute?“ Sie meinte, das sei aussichtslos.
Das Gespräch hat mich sehr nachdenklich gemacht. Hier ist der richtige Zeitpunkt wohl einfach verpasst worden. Zumindest werde ich die Frau und ihre Mutter vor Gott tragen – und aufmerksam sein. Vielleicht ergibt sich eine weitere Begegnung.

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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2022.
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