2. Dezember 2022

Eine Schwäche für die Schwachen

Von nst5

Emma Mannocchi arbeitet als Heilerziehungspflegerin.

Ein Beruf, der sie zutiefst erfüllt und ihr ein neues Verständnis von Gegenseitigkeit eröffnet hat.

„Es ist doch oft so: Wir erwarten, dass der andere mir etwas gibt, das ich nicht habe oder nicht kann. Und erst dann bin ich dazu bereit, auch etwas von mir zu geben.“
Wenn Emma Mannocchi diesen Eindruck formuliert, blitzt es in ihren Augen. Denn in ihrer Arbeit erlebt sie etwas ganz anderes. Die 41-jährige Italienerin arbeitet in Augsburg als Heilerziehungspflegerin. In ihrer Förderstätte leben acht schwerstmehrfachbehinderte Menschen zwischen 23 und 48 Jahren. Sie alle verbindet, dass sie blind oder stark sehgeschädigt sind. In der Beziehung zu ihnen zählt weder, was sie können, noch, was man erreichen will. Was hier zählt, ist, Moment für Moment das Große im Winzigen und das Schöne im Begrenzten zu entdecken. „Hier erleben wir, dass wertvoll ist, wer nicht machen, nicht laufen, nicht sprechen kann.“ Sie selbst, so Emma, habe hier verstanden, dass auch ihr Nicht-Können, ihre Grenzen Wert haben.

Foto: (c) Dominikus-Ringeisen-Werk

Emma Mannocchi hat nicht immer in diesem Beruf gearbeitet. Aber von Kindheit an hat sie eine Schwäche für die vermeintlich Schwachen. Sie wurde im Januar 1981 im mittelitalienischen Castel di Lama geboren, einem 8000-Einwohner-Dorf in der Provinz Ascoli Piceno. Ihre Eltern waren Lehrer und unterrichteten an einem „Kleinen Seminar“, einer von Ordenschristen getragenen Schule für spätere Priesteramtskandidaten. So wuchs das Einzelkind Emma mitten unter Ordensmännern auf. Bis heute ist sie dankbar für die Prägung, die das mit sich gebracht hat. So war es in ihrer Familie üblich, den Patres vieles zu geben, das sie in die Mission schicken konnten. Emma selbst hat ihr Kommunionkleid an eine Ordensfrau in Brasilien geschickt, damit es ein Kind dort tragen konnte.
Neben der Großzügigkeit hat Emma von ihren Eltern auch eine einfache und tiefe Beziehung zu Gott geschenkt bekommen. „Er ist ein Freund. Ich rede viel mit ihm. Die Beziehung ist vertrauensvoll. Mit ihm kann ich auch streiten, ihm sagen, dass ich etwas nicht verstehe. Es kommt auch vor, dass ich mich von ihm abwende, dann aber zurückkomme und noch einmal mit ihm rede.“
Nach der Schule erfüllte sich Emma einen Kindheitstraum: Sie schrieb sich an der Universität Perugia für Tiermedizin ein. „Schon als kleines Mädchen habe ich nicht mit Puppen, sondern mit Plastiktieren gespielt und sie gepflegt.“ Emma studierte mit Begeisterung, und doch waren die Jahre in Perugia alles andere als einfach für sie. Hier erlebte sie – wie auch in anderen Situationen vorher und nachher –, dass nun sie es war, die sich schwach und allein fühlte; nicht diejenige, die anderen zur Seite stand.
„In Perugia habe ich mich nicht wohlgefühlt“, sagt sie. Die Menschen seien verschlossen gewesen und einiges, was sie dort erlebt hat, habe einfach wehgetan, etwa die Drogenerfahrungen einiger ihrer Mitstudierenden.

Foto: (c) Dominikus-Ringeisen-Werk

Nach dem Studium arbeitete sie in einer Tierklinik in Ascoli. Doch sehr bald zeigte sich, dass der vermeintliche Traumberuf nicht zu ihr passte. „Es war zu eng für mich.“ Sie kündigte und fand Arbeit in einem Labor für Lebensmittelsicherheit. Als sie feststellte, dass ihr Chef Ergebnisse fälschte, gab sie auch diese Arbeit auf. Ihre nächste Arbeitsstelle ermöglichte ihr eine Ausbildung in tiergestützter Therapie und den Abschluss als Fachtierärztin für Lebensmittel.
Einige Jahre später kam Emma nach Deutschland, wo sie für ein Jahr als Tierärztin arbeitete, um Fuß in der neuen Umgebung zu fassen. Als sich auch hier zeigte, dass dies nicht ihr Platz war – Emma wurde von ihrer Chefin gemobbt und drohte, krank zu werden –, sah sie die Gelegenheit, ihrem beruflichen Lebensweg eine neue Richtung zu geben. Etwas Pädagogisches sollte es sein. Nicht wenige in ihrer Umgebung sahen das eher skeptisch, befürchteten einen sozialen Abstieg. Dann jedoch ermöglichten Freunde ihr ein einwöchiges Praktikum in einer Wohngruppe des Dominikus-Ringeisen-Werkes. „Nach drei Tagen hat die Einrichtungsleitung mir einen Arbeitsvertrag angeboten.“ Die notwendige Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin konnte sie ebenfalls dort machen. Seit 2015 hat Emma nun dort eine Arbeit, die sie zutiefst erfüllt. 1
Nicht nur beruflich hat sie einiges erlebt, sondern auch auf dem Weg zu ihrer persönlichen Lebensentscheidung. Ihre Eltern waren in der Pfarrei aktiv. Als sie eine Gruppe von Jugendlichen auf die Firmung vorbereiteten, suchten sie Unterstützung bei einem jungen Priester. „Mit ihm kamen auch Jugendliche der Fokolar-Bewegung in unser Dorf“, erinnert sich Emma. „Auch wenn meine Eltern sich nie der Fokolar-Bewegung angeschlossen haben, so waren diese Jugendlichen doch gern gesehene Gäste in unserem Haus.“
Als sie neun Jahre alt war, machte Emma bei einer solchen Gruppe mit, vor allem jedoch, weil dort viel Fußball gespielt wurde. Auch später bewegte sie sich im Kreis dieser jungen Leute, hatte jedoch den Eindruck, der „Klassenclown“ zu sein – immer für einen Spaß zu haben, wohl auch, um eine gewisse Distanz wahren zu können.

Foto: privat

Das änderte sich, als sie 1998 mit 17 Jahren allein an einer weiter entfernt stattfindenden Begegnung teilnahm. „Das war eine der schönsten Erfahrungen in meinem Leben“, sagt Emma heute. „Hier kannte ich kaum jemanden, und vor allem kannte kaum jemand mich. Ich habe keine Rolle spielen müssen, ich konnte das Gute in mir zeigen, weil ich noch in keiner Schublade war.“
Nach diesen Tagen entschloss sie sich, Verantwortung in der Jugendarbeit sowohl in der Fokolar-Bewegung als auch im Bistum zu übernehmen. Am Ende des gleichen Jahres wurde diese Entscheidung durch einen doppelten Verlust auf die Probe gestellt: Einer der beiden Priester, die sie in ihrem Engagement begleiteten, starb mit 38 Jahren bei einem Autounfall; der zweite gab das Priesteramt auf und heiratete. Emma: „Im ersten Moment haben wir uns ohne Leitung und ohne Begleitung gefühlt. Wir begegneten dem Schmerz im Tod und darin, dass jemand der uns einen Weg im Glauben gezeigt hatte, diesen Weg verließ.“
Emma blieb und setzte ihr Engagement mit einer neuen Ernsthaftigkeit fort. 2005 wurde sie auf die Hope Music School, eine Musikschule der italienischen Bischofskonferenz, aufmerksam gemacht. Emma, die seit einiger Zeit Texte schrieb, war Feuer und Flamme, hatte aber keine Idee, wie sie die Studiengebühren aufbringen sollte. Eine Freundin aus dem Fokolar ermutigte sie: „Wenn du die Einschreibegebühr aufbringen kannst, dann lass uns gemeinsam darauf vertrauen, dass sich immer wieder Wege zeigen.“ Und so war es. Kleine Jobs und Geldgeschenke halfen ihr über zwei Jahre hinweg, die Schule zu finanzieren. Zwei Wochen im Jahr kam sie mit jungen Erwachsenen in Rom zusammen, um eine intensive künstlerische und zugleich geistliche Erfahrung zu machen.
„Häufig war es so: Am Abend um acht Uhr wurden wir in Teams eingeteilt – ein Komponist, ein Texter, zwei, drei Sänger und einer für das Arrangement. Zwölf Stunden später sollte ein neuer Song geschrieben und eingespielt sein. Dieser Geist der Zusammenarbeit hat sich mir eingebrannt.“ Im Leben und Arbeiten mit Menschen ganz unterschiedlicher Prägung hat Emma verstanden, was ihr Charisma, also ihre geistliche Heimat und gleichzeitig ihr Beitrag für die Gemeinschaft ist: ermöglichen, dass sich die Zusage Jesu erfüllen kann: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus 18,20).

Foto: (c) Dominikus-Ringeisen-Werk

Das war eine entscheidende Einsicht, doch weiterhin war offen, wo sie diese Berufung leben wollte. Sie hatte sich immer wieder einmal gefragt, ob eine Fokolar-Gemeinschaft ihr Platz sein könne. Doch ihr Eindruck, dass Ideal und Lebenswirklichkeit oft nicht übereinstimmten, ließ sie zögern.
Einer der geistlichen Begleiter in der Hope Music School sagte ihr eines Tages: „Ich spüre eine Unruhe in dir. Du solltest in dich hineinschauen. Ich glaube, dass Gott dir etwas sagen will.“ Emma kam gerade aus einer tiefen Freundschaft mit einem Gruppenleiter der „Azione cattolica“ (Katholische Aktion) und war tatsächlich unruhig. „Wir hatten uns noch nicht als Paar verstanden, aber es stimmte eigentlich alles.“ Dann erkrankte der kleine Bruder des jungen Mannes schwer an Krebs. Ihr Freund bat Emma, mit ihm täglich um das Wunder der Heilung zu beten. Sie wiederum schlug ihm vor, gleichzeitig darum zu beten, dass sie den Willen Gottes auch dann annehmen könnten, wenn es zu keiner Heilung kam. Diese unterschiedliche Weise, mit der schmerzlichen Situation umzugehen, hatte beide schließlich voneinander entfernt.
Das war im Sommer 2005. In dieser Situation übernahm Emma die Leitung einer Gruppe in einem Camp für Jugendliche zwischen 15 und 18. „An einem Tag zog sich eines der Mädchen zurück. Sie saß allein an einer Ecke des Spielplatzes.“ Als Emma sie ansprach, stellte sich heraus, dass die Mutter des Mädchens am gleichen Tag in den USA am Gehirn operiert wurde.
„In diesem Moment habe ich ganz klar eine Stimme in mir gehört: ‚Das ist die Familie, die ich für dich gedacht habe.‘ Ich verstand, dass meine Familie für Menschen, wie dieses Mädchen da sein und ihnen in solchen Situationen ein Zuhause schaffen sollte.“ Vier Jahre später war es schließlich so weit: Emma trat der Fokolar-Gemeinschaft bei. Nach der Vorbereitungszeit in den Fokolar-Siedlungen Loppiano (Italien) und Montet (Schweiz) kam sie Ende 2013 nach Augsburg.
Den Ruf, der Not der Menschen zu begegnen, kann sie in der Arbeit nicht nur mit den Bewohnern der Förderstätte leben, sondern auch mit den Praktikanten und Auszubildenden, deren praktische Anleitung sie inzwischen übernommen hat. „Sie kommen mit all den Fragen und Nöten, die Menschen mit 16 oder 18 haben. Einsamkeit, Trennungsschmerz, Brüche.“ Emma möchte, dass sie nicht nur die Ausbildung erfolgreich abschließen, sondern sich als Menschen entfalten können und sich geliebt fühlen.

Foto: privat

„Wenn ich sehe, dass ein Mädchen eine sehr schwierige Zeit durchmacht, kann ich nicht wegschauen.“ Die Corona-Zeit und Liebeskummer hatten die junge Frau aus der Bahn geworfen. Emma hat sie angesprochen, das Problem benannt und mit ihr eine Lösung gesucht. Erfolgreich. Die junge Frau steht kurz vor dem Ende ihrer Ausbildung und hat schon eine Stelle angeboten bekommen. „Ich möchte jede Beziehung so leben, dass der andere entdecken kann, was es heißt, gegenseitige Beziehungen zu leben und in seiner Umgebung selbst solche Beziehungen zu schaffen.“
Manchmal fragt sich Emma, warum die Gegenseitigkeit ohne Eigeninteresse, die ihr in der Arbeit meist so leichtfällt, in anderen Situationen nicht gelingt. „Warum schätze ich die kleinen Dinge nicht bei allen Menschen? Warum erwarte ich von ihnen etwas Großes?“ Es gehe um ein tägliches Üben, meint sie, um den immer neuen Versuch, nicht auf das große Aha-Erlebnis zu warten. Damit ist sie wohl nicht alleine.
Peter Forst

1 Vor gut einem Jahr hat Emma Mannocchi ein Video-Interview über ihre Arbeit gegeben. Man kann es hier anschauen: www.youtube.com/watch?v=4KlyTqZkclo


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2022.
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