2. Dezember 2022

Ganzheitlich gegensteuern

Von nst5

Günter Schmitt

Foto: (c) Pflegemotive GmbH in Winsen an der Aller

kommt „aus einer Familie im Rheinland, die sich seit Jahren in der Pflege einbringt“. Er ist Fachkrankenpfleger für Intensiv und Anästhesie, war im Krankenhaus, in der stationären Altenpflege und in der Ausbildung und Weiterbildung tätig. Zur Zeit ist er Qualitätsmanager in der stationären Altenpflege. In der „7 Hills Neo GmbH“ arbeitet er zusammen mit seiner Frau und dem ältesten Sohn an einer Vision: Mitarbeitende im Gesundheitswesen sollen eine systematische Begleitung bekommen.

Schon seit einiger Zeit hatte ich mich mit dem massenhaften Abwandern von Pflegekräften aus ihrem Beruf beschäftigt. Da hörte ich im Radio eine Reportage über eine Demonstration in Berlin. Dabei schilderte eine Pflegekraft, was sie in der zweiten Corona-Welle während eines Nachtdienstes auf einer Intensivstation in Berlin erlebt hatte. Sie war mit einer Aushilfe aus der Leiharbeit, die Station und Patienten nicht kannte, allein zum Nachtdienst auf der Intensivstation. Als sie bei einer Wiederbelebungsmaßnahme war, hörte sie Hilferufe von Patienten. Erst als sie die Wiederbelebung beendet hatte, konnte sie wieder nach den restlichen Patienten sehen: Drei waren aus dem Bett gefallen. Als sie vom Frühdienst abgelöst wurde, erlitt diese Pflegekraft einen Nervenzusammenbruch.
„Und wer kümmert sich jetzt um sie?“, schoss es mir durch den Kopf. Tatsächlich fehlt es an einer professionellen Struktur, mit der Pflegekräfte nach besonders belastenden Situationen aufgefangen werden können; eine schnell verfügbare und längerfristig angelegte Begleitung, wie sie für Einsatzkräfte der Polizei oder der Notfallseelsorge vorgesehen ist, existiert nicht.
Viele Pflegekräfte sind Idealisten. Sie haben ihren Beruf mit ideellen Zielen gewählt und treffen dann in Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen auf Betriebe, die Gewinne erzielen müssen. Dies führt nicht selten zu erheblichem moralischen Stress, der in der Gesellschaft noch zu wenig wahrgenommen wird. Warum eigentlich müssen Gesundheitsbetriebe Gewinne erzielen? Das müssen Polizei oder Schulen ja auch nicht.
Gleichzeitig muss man sich fragen, wieso jener Nachtdienst überhaupt mit einer so geringen Personaldecke durchgeführt werden musste und wie stark die Pflegekraft dazu moralisch unter Druck gesetzt worden war. Dies ist für mich ein Beispiel von Machtmissbrauch, der als solcher benannt und durch klare Vorgaben eingedämmt werden muss.

Grafik: (c) Lizaveta Kadol (iStock)

Sicherlich müssten Pflegende auch stärker in Entspannungsverfahren und Meditationsformen unterwiesen werden – aber nicht zur Selbstoptimierung, damit sie danach den negativen Stress besser aushalten können, sondern um wieder einen eigenen Rhythmus zu finden.
Wenn wir diese strukturellen Defizite nicht klar benennen und angehen, bleibt Pflege noch weiter in der Abwärtsspirale mit immer mehr Aussteigern.
Ich meine, dass sich die Probleme nur mit einem ganzheitlichen Ansatz beheben lassen. Eine nachhaltige Veränderung kann nicht nur von den Pflegekräften allein getragen werden. Stattdessen müssen die Veränderungen über alle Ebenen – Inhaber, Management, Ärzte, Führungspersonal – mitgetragen werden. Nur wenn es gelingt, alle Beteiligten auf diesen Weg mitzunehmen, besteht eine Chance zum Wandel.
Wir arbeiten an einer mehrmonatigen systematischen Begleitung für Mitarbeitende im Gesundheitswesen, damit sie schwere Erlebnisse wie die aus Pandemie und Arbeitsüberlastung aussprechen und bearbeiten können. Dabei streben wir eine wissenschaftliche Begleitung an, damit die Ergebnisse allen offenstehen. Ob wir unsere Vision irgendwann realisieren können, hängt davon ab, ob wir finanzielle Unterstützung finden und Organisationen, in denen alle Hierarchiestufen an einer Veränderung mitwirken wollen.


Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier
das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2022.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.