2. Februar 2023

Die Freiheit feiern

Von nst5

Kirchliche Leute neigten dazu, die Verantwortung so stark zu betonen,

dass von der Freiheit nicht mehr viel übrigbleibt, meint Petra Bahr, evangelische Philosophin und Regionalbischöfin von Hannover. Und doch gehöre die Pflicht dazu.

Was kommt Ihrer Meinung nach zuerst, Frau Bahr? Freiheit oder Verantwortung?
Für mich als protestantische Philosophin, Theologin und Pastorin ist die Sache ziemlich klar: Es gibt keine Rangfolge von Freiheit und Verantwortung. Beide haben den gleichen Ursprung. Es kommt auf den Blickwinkel an. Wenn man aus der Perspektive des Ichs guckt, hofft man, dass die anderen die eigenen Freiheitsräume akzeptieren. Wenn man aus der Perspektive der anderen guckt, wird man daran erinnert, dass ihre Freiheitsräume zu respektieren sind.

Ist das Ausbalancieren von Freiheit und Verantwortung die Grundspannung in einer Gesellschaft?
Ich denke schon. Das Grundgesetz hält das auf großartige Weise in einem schwebenden Gleichgewicht. Es setzt Regeln und garantiert das Recht, auch gegenüber dem Staat Freiheiten zu beanspruchen; übrigens auch Freiheiten, die zum Minderheitenschutz gehören, und dazu gehört ja inzwischen auch schon die Religionsfreiheit. Deswegen möchte ich vor allem das Lob der Freiheit singen. Sie ist nicht selbstverständlich.

Woran denken Sie?
Autokratische Regime, egal ob im Iran oder in China und Russland, beschneiden die eigenen Gesellschaften so massiv in ihren Lebensübungen, wie man sich das kaum vorstellen kann: Was bedeutet es, wenn man nicht mehr laut sagen kann, was man denkt, wen man mag, was man bevorzugt, wie man die Welt gerne ändern oder auch belassen würde?

Was heißt das für uns?
Wir sollten die Freiheit stark machen! Gerade kirchliche Leute neigen dazu, die Verantwortung so stark zu betonen, dass von der Freiheit nicht mehr viel übrigbleibt. Wir haben jedoch allen Grund, die Freiheit als großes Geschenk zu achten und nachgerade zu feiern. Wir können dankbar sein für die gigantischen Freiräume, die wir mühsam errungen haben.
Deshalb sollten wir nicht vorschnell unterstellen, dass die Freiheit in krankhaften Egoismus entartet und Solidarität nicht mehr üblich sei – anders als früher, als die Menschen noch aufeinander geachtet hätten. Historisch ist das einfach falsch. Und noch etwas halte ich für gefährlich.

Und zwar?
Bei manchen Christen geht die Skepsis gegenüber der Freiheit so weit, dass sie behaupten, autoritäre Regime beachteten die christliche Ordnung mehr als liberale Demokratien. Es ist eine Versuchung zu glauben, in solchen rückschrittlichen Ordnungssystemen wären christliche Werte besser aufgehoben als in liberalen Demokratien, wo man sich mit anderen Weltanschauungen auseinandersetzen muss.

Jetzt haben Sie die Freiheit wirklich sehr betont.
Wenn man die Freiheit in all ihren Ausformungen achtet und dankbar für sie ist, dann kann und muss man auch über massive Übertreibung reden. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die eigene Freiheit und die eigene Vorstellung vom guten Leben das Maß aller Dinge wird. Das konnte man in der Pandemie sehen. Da wurde etwa aus der vermeintlichen Freiheit, trotz Maskenpflicht ohne Maske im Zug zu sitzen, so etwas wie ein aufgeplusterter ziviler Ungehorsam, was es ja nun wirklich nicht ist.

Mir scheint, dass es bisweilen ein Verständnis von individueller Freiheit gibt, das auf eine klammheimliche Art autoritär geworden ist. Es sagt: „Ich will gar keinen Staat, und ich will nicht, dass mir irgendwer in meine Freiheiten hineinredet.“ Da wird eine „Diktatur des Ich“ gefeiert. Das ist etwas anderes als die Freiheit, von der wir eingangs gesprochen haben.

Ist das neu?
Viele Menschen unterwerfen sich ungern Regeln, die sie nicht selbst gemacht haben. Wenn sie etwas nicht sofort einsichtig finden, dann stellen sie sich erst einmal dagegen. Das hat sich geändert. Es gab Zeiten, in denen man sich einer Regel unterworfen hat, weil sie von einer Instanz kam, die man als Autorität anerkannt hat.
Das liegt übrigens auch an der Art, wie wir kommunizieren; nicht nur durch die sozialen Medien, sondern auch, weil das Prinzip der Augenhöhe dazu führt, dass jede und jeder zu allem gehört werden will, bevor er oder sie sagt, diese Regel erkenne ich an.

Was sagen Sie den Menschen, die überzeugt sind, dass in den vergangenen Jahren Freiheiten unangemessen eingeschränkt wurden?
Es mag da und dort Übertreibungen gegeben haben und Pandemie-Regeln, die nicht mehr verständlich waren. Ich sehe aber keine Einschränkung unserer Freiheiten.
Was es bedeutet, wenn ein Staat massiv Freiheiten einschränkt, das können wir in vielen Ländern dieser Erde gerade beobachten. Da finde ich das Gerede von Diktatur mit Blick auf den deutschen Staat unbotmäßig, ja beinahe bösartig.
In der Pandemie sind Freiheiten beschränkt worden, aber das war immer befristet und wurde überprüft. Solange Gesellschaften lernen, dass bestimmte Einschränkungen übermäßig sind; solange es Gerichte gibt, die Einspruch einlegen und damit Erfolg haben, mache ich mir wenig Sorgen. Ich mache mir eher Sorgen über ein politisches Klima, das den Eindruck erweckt, als dürfe man nicht mehr alles sagen. Dagegen erhebe ich stark und laut Einspruch.

Klimaaktivisten etwa der „Letzten Generation“, fordern die Verantwortung des Staates ein und nehmen in Kauf, die Freiheit anderer einzuschränken. Ist die Reaktion darauf übertrieben?
Sie ist von beiden Seiten übertrieben: Von den einen werden diese Menschen als große Widerstandskämpfer gefeiert und von den anderen als Klimaterroristen verunglimpft.
Das führt dazu, dass man nur noch über die Demonstrationsform redet und nicht mehr über die Frage: „Was müssen wir jetzt eigentlich tun, um der großen Sorge der nächsten Generation gerecht zu werden?“
Unsere Generation weiß seit den 1970er-Jahren, was die Zeit geschlagen hat. Es braucht einen neuen Generationenvertrag. Da sind wir Älteren in der Pflicht, die mit dem Geld und dem Know-how – und mit einer gewissen Müdigkeit in den Knochen. Aber diese Müdigkeit können wir uns nicht leisten.

In anderen Teilen der Welt müssen Menschen um ihre Freiheit kämpfen – etwa in der Ukraine oder im Iran. Wie steht es da um unsere Solidarität?
Ich sehe, wie sehr wir mit den Frauen im Iran solidarisch werden können, weil wir – dank der sozialen Medien – überhaupt merken, was da passiert, weil wir sehen, wie mutig junge Frauen, aber auch Männer sind; wie sie – wohl wissend, dass sie jederzeit inhaftiert werden können und mit ihrem Leben spielen – darauf aufmerksam machen, dass sie so wie sie leben müssen, nicht mehr leben wollen. Und auch die religiöse Überhöhung dieser autoritären Strukturen nicht mehr mitmachen.
Und die Solidarität mit der Ukraine ist sicher bemerkenswert.

Höre ich da ein „Aber“ heraus?
Allerdings. Unsere Solidarität ist gebrochen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass das Gebot „Liebe deinen Nächsten“ in Kilometern gemessen wird oder mit der Sprache, die man spricht. Wer nicht zu meinem Kulturkreis gehört, bleibt außen vor.

Was ist der besondere Beitrag der Christen in der Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung?
Christlich verstanden ist der Auslöser der Freiheit eine Bindung. Erst die Bindung an Gott ermöglicht Freiheit, weil Menschen sich in ihrer Geschöpflichkeit annehmen können, in ihrer Begrenzung und in ihrer Stärke. Diese Bindung schützt die Freiheit, weil sie ein Gegengift ist gegen Selbstüberschätzung aller Art. Christen können die Freiheit feiern, weil sie nie auf Kosten anderer handelt. Es ist eine Freiheit, die immer weiß, dass sie nicht selbst geschaffen ist und damit auch gefährdet bleibt. Freiheit ist nicht einfach so da, sondern will gepflegt und überdacht werden.

Da sind wir wieder beim gleichen Ursprung von Freiheit und Verantwortung.
Genau. Martin Luther sagte, dass die Reaktion auf das Geschenk der Freiheit Dankbarkeit sei. Und Dankbarkeit mündet immer in eine Ethik, also in eine Haltung gegenüber den anderen, ganz besonders gegenüber den Schwachen, die ihre Freiheitsräume nicht so leicht gestalten können. Deswegen ist die Orientierung an den Schwachen immer auch die Pflicht, die eigene Freiheit für sie einzusetzen.

Mit dem Begriff Pflicht tun wir uns nicht gerade leicht.
Mein Mann ist Verfassungsrechtler. Er sagt, das Recht sei so angelegt, dass auf eine Freiheit immer eine Pflicht folgt, und fragt: „Wieso habt ihr in den Kirchen so große Schwierigkeiten, das Wort Pflicht zu benutzen im Sinne einer verpflichtenden Antwort auf das Geschenk der Freiheit?“

Wir könnten uns also mutiger einbringen?
Das meine ich schon. Das christliche Verständnis von Freiheit und Verpflichtung, von Freiheit und Verantwortung hat eine große Kraft. Aber es sollte ein Angebot sein und nicht dieses leicht Patzige: „Würdet ihr die christliche Begründung der Freiheit ernst nehmen, hättet ihr diese ganzen Probleme nicht. Dann würdet ihr in einer christlichen Ordnung leben und alles wäre gut.“ Das ist angesichts der Blutspur, die das Christentum hinterlassen hat und noch hinterlässt, nicht die richtige Haltung.

Vielen Dank für das Gespräch.
Peter Forst

Fotos: (c) Jens Schulze/Sprengel Hannover

Petra Bahr ist seit Januar 2017 die Regionalbischöfin für den Sprengel Hannover der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Nach einer journalistischen Ausbildung hat sie Theologie und Philosophie in Münster, Bochum und Jerusalem studiert. Sie promovierte 2002 an der Universität Basel über die „Kritik der Urteilskraft“ von Immanuel Kant und lehrte von 2000 bis 2006 Religionsphilosophie und Ethik an der Universität Frankfurt am Main. Von 2006 bis 2014 war sie Kulturbeauftragte des Rates der Evangelische Kirche in Deutschland. Von 2014 bis 2016 leitete sie die Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Seit 2020 ist Petra Bahr Mitglied des Deutschen Ethikrates.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2023.
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