3. Februar 2023

Die Jacke bereithalten

Von nst5

Teresa Mühlig

Das Maß an Freiheit und Vertrauen, das uns zugemutet wird, kann heillos überfordern. Da braucht es auch Vertrauen.

Foto: privat

Teresa Mühlig,
35 Jahre alt, ist Soziologin und Theologin. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern auf der Fazenda da Esperança in Boppard und arbeitet freiberuflich als Moderatorin und Journalistin.

Ich muss gestehen, dass ich mit den Möglichkeiten an Freiheit und dem daraus folgenden Maß an Verantwortung manchmal heillos überfordert bin. Vor Anfang des vergangenen Jahres habe ich eine Menge Zeit damit verbracht, möglichst viel zu den Themen Maskenpflicht, Corona-Impfung, Synodaler Weg, Fake News und Ukraine-Krieg zu verstehen. Mir war wichtig, die „richtige Position“ zu haben, fundierte Entscheidungen treffen zu können und so verantwortungsvoll mit meiner Freiheit umzugehen.
In dieser Zeit habe ich viele spannende Informationen gewonnen, kontroverse Gespräche geführt und neue Gedankenwelten kennengelernt. Doch die ersten spürbaren Ergebnisse meiner Bemühungen waren Angst, Wut und eine rapide schlechter werdende Laune, unter der vor allem meine Familie zu leiden hatte. Die Fülle an Informationen, die uns zur Verfügung steht, mutet uns zugleich eine unglaubliche Freiheit und Verantwortung zu, die für mich manchmal nicht mehr zu bewältigen ist.
Da wurde mir klar: Freiheit braucht nicht nur Verantwortung, sie braucht auch Vertrauen. Ob die Betreuungsform, die wir für unsere Kinder wählen, für sie gut ist; ob die Schutzmaßnahmen gegen Corona ausreichen oder die Belastung für die Gesellschaft und für Einzelne nicht zu groß ist; ob die Maßnahmen im Russland-Ukraine-Krieg zum Frieden führen oder ob ich in der katholischen Kirche bleibe: Das alles sind freie Entscheidungen, die verantwortungsvoll getroffen werden wollen. Aber sowohl bei dem, was ich selbst tun kann, als auch bei dem, was andere entscheiden, braucht es Vertrauen, um nicht von der Last der Entscheidung gelähmt zu werden. Der Blick auf die Schlagzeilen dieser Wochen lässt das Vertrauen eher schwinden. Aber es gibt trotzdem etwas, unsichtbar, aber spürbar, das mein Vertrauen stärkt. Oft wird Unsichtbares für mich sichtbar an meinen Kindern.
Meinem Mann und mir ist es ein Anliegen, unsere Kinder darin zu begleiten, freie und selbstbestimmte Menschen zu werden. Sie sollen ihr Leben gestalten und lernen, gute Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig ist ihre Wahrnehmung und das, was ihnen wichtig ist, oft anders als für uns Erwachsene. Wenn wir rausgehen, möchten sie lieber keine Jacke anziehen. Sie können sich nicht vorstellen, später zu frieren, wenn es in der Wohnung doch warm ist. Ich lasse sie dann gehen und nehme die Jacken für sie mit, damit sie da sind, wenn sie sie brauchen.
Mich tröstet der Gedanke, dass auch ich nicht allwissend sein muss, um Entscheidungen frei und verantwortungsvoll treffen zu können. Ich spüre, dass das kindliche Vertrauen Schlüssel zu einer inneren Freiheit ist, die sich auf das Leben verlassen darf wie auf eine Mutter und einen Vater. Ich vertraue drauf, dass es Gott gibt, eine liebevolle Kraft, die das Lebens im Innersten bewegt, die mir das Gute will und allen anderen Menschen auch, die will, dass wir lernen und wachsen und dem Leben mit freudiger Erwartung begegnen, die um unsere Eigenheiten weiß und die uns beisteht. Und ich vertraue, dass Gott – wenn ich meine Freiheit so nutze, dass ich meiner Verantwortung nicht gerecht werde – auch für mich eine Jacke bereithält.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2023.
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