2. Februar 2023

Freiheit verpflichtet

Von nst5

Liz Fischli-Giesser

Foto: privat

ist Juristin mit Anwaltspatent und arbeitet bei der Datenschutzbehörde des Kantons Bern. Das Gemeinwohl, Menschen und die Umwelt liegen ihr am Herzen und ihr Einsatz dafür bestimmte ihren Werdegang. So war sie acht Jahre für die Grünen im Parlament der Gemeinde Köniz und ist im „Forum Politik und Geschwisterlichkeit“ der Fokolar-Bewegung aktiv. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Pflichten und Verbote gehörten zur Zeit der Pandemie; sie waren Bewältigungsstrategien. Nun wird aktuell wieder darüber diskutiert für den Fall einer Strommangellage. Ein Teil der Schweizer Bevölkerung empfand die Pandemievorschriften als diktatorische Beeinträchtigung ihrer persönlichen Freiheit. Die Mehrheit der Bevölkerung trug sie indessen in mehreren Volksabstimmungen zum Covid-Gesetz mit. Die Abstimmungen zeigten – und die politischen Behörden achten darauf -, dass Vorschriften und Pflichten dann eine Chance haben, wenn sie maßvoll sind und für nötig gehalten werden.
Die Freiheit hat in der Schweiz einen hohen Stellenwert. Sie ist eine Grundlage ihrer Befreiungsgeschichte und gehört zu ihrer politischen Identität. Nach der Bundesverfassung (BV) gilt sie jedoch nicht absolut. Das zeigt bereits die Präambel: „Das Schweizervolk und die Kantone“ erneuern ihren Bund, „um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken … gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“. Und die Verfassung appelliert an die individuelle und gesellschaftliche Verantwortung: „Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei“ (Art. 6 BV).
Freiheit, Verantwortung und Solidarität gehören zusammen. Freiheit wird als Freiheit „zu“ einem verantwortungsvollen solidarischen Handeln verstanden. Dass dieses Bewusstsein in Politik und Gesellschaft verankert ist, zeigt das tägliche Engagement vieler. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die Bereitschaft, sich freiwillig fürs Gemeinwohl einzusetzen, tendenziell eher abgenommen hat. Es ist schwieriger, Ämter auf Gemeindeebene, in Vereinen und Freiwilligenarbeit zu besetzen. In der Politik harren drängende Themen auf griffige solidarische Lösungen. Manifestationen während der Pandemie setzten kompromisslos auf die eigene Freiheit. Verloren schien das Grundverständnis, dass die eigene Freiheit an der Freiheit des anderen ihre Grenzen findet und immer auch solidarische Mitverantwortung bedeutet. Umso bedeutsamer ist die neue Diskussion darüber, ob es in unserer Verfassung eine Verpflichtung auf das Gemeinwohl brauche.
Es ist offensichtlich, dass Freiwilligkeit allein nicht ausreichen wird, um die Herausforderungen und globalen Krisen unserer Zeit zu bewältigen. Es wird ein hohes Maß an Solidarität brauchen, fair verteilt und von allen mitgetragen. Das wird nicht ohne Plichten gehen. Auch die Postulate der Französischen Revolution von „Freiheit“ und „Gleichheit“ haben sich erst dank verbindlicher Rechte und Pflichten entwickelt. Deshalb sollten wir heute unsere rechtsstaatlichen und demokratischen Prozesse verantwortungsvoll dafür nutzen, um der Solidarität und damit dem dritten Postulat, der „Brüderlichkeit“ beziehungsweise „Geschwisterlichkeit“, zum Durchbruch zu verhelfen, nicht zuletzt mit angemessenen Solidaritätspflichten.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2023.
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