2. Februar 2023

Überraschen lassen

Von nst5

Klara Sucher hat erfahren, dass das Leben oft ganz anders verläuft als erwartet.

„Doch alles gehört dazu und hat aus mir den Menschen gemacht, der ich heute bin.“

Über 20 Jahre sind vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, mit Ausnahme einer kurzen Begegnung vor einigen Jahren. Um die Jahrtausendwende lebten wir beide im Ökumenischen Lebenszentrum in Ottmaring bei Augsburg. Klara Sucher war damals Schülerin, die Zweitälteste von fünf Geschwistern, und ich war oft in ihrer Familie zu Gast. In den folgenden Jahren haben wir uns aus den Augen verloren. Als ich mich mit ihr für diesen Artikel verabreden will, bin ich unsicher, ob sie sich überhaupt an mich erinnert. „Aber natürlich“, schreibt sie mir zurück. „Du unterschätzt völlig den Eindruck, den du bei mir hinterlassen hast.“ Ich bin neugierig, was aus ihr geworden ist. Heute leben wir beide in Berlin, sind beide beruflich stark eingebunden. Die persönliche Begegnung muss warten, wir verabreden uns online.
„Als Kind warst du eine Art Überfliegerin“, beginne ich das Gespräch: „Du warst immer Klassenbeste, eine internationale Austauschschülerin und weil der Unterricht dich so unterfordert hat, hast du dich als Klassensprecherin, Schulmediatorin und Schulsanitäterin engagiert.“ Klara lacht, gibt mir aber gleich zu verstehen, was sie davon hält: nichts. „Wir ordnen Menschen oft in Kategorien ein: Migrantin, Unternehmerin, Alleinerziehende oder eben Überfliegerin. Das versperrt den Blick auf das Wesentliche, das jeden Menschen ausmacht. Wir bilden uns ein, schon alles über den anderen zu wissen. Und diese Kategorisierung verhindert echten Dialog auf Augenhöhe“. Schneller als gedacht sind wir mitten im Thema. Ich versuche es trotzdem nochmals: „Aber wenn ich auf deine Vita schaue, dann scheint dir alles zu gelingen: Gründung einer Schule in Berlin, Beratung einer großen politischen Partei oder jüngst Mitarbeit an einem Forschungsprojekt der Europäischen Union. Was macht dich aus?“

Alle Fotos: privat

Zunächst einmal ist sie Partnerin, Mutter von drei Kindern, Tochter, Schwester. Das Privatleben ist ihr überaus wichtig und gibt ihr Kraft und Halt. „Wenn es schwierig wird oder wenn ich das Gefühl habe, dass ich Unterstützung brauche, dann weiß ich, dass ich sie in meiner Familie finde. Im ersten Lockdown haben wir zum Beispiel mit der damals vierköpfigen Familie bei einer Tante in Baden-Württemberg gelebt. Über Nacht sind wir für zwei Monate in ihr Haus eingezogen. Sie hat rundum für uns gesorgt, mein Mann hat sich um das Home-Schooling der Kinder gekümmert, und ich habe meine Arbeit in den digitalen Raum verlagert.“
„Ich verstehe mich als politischer Mensch“, erklärt Klara. „In der Politik geht es vor allem um Sachfragen, um den Ausgleich von Interessen – denken wir. Die Mehrheit bestimmt. Oder wir moderieren Konflikte einfach weg und finden im Namen einer falsch verstandenen Harmonie Kompromisse, die niemanden zufriedenstellen. „Ich habe aber ein anderes Verständnis von Politik – und mein Eindruck ist, dass mehr und mehr Menschen das teilen.  Mich interessiert vor allem die Frage, wie unsere Gesellschaft, in der alle ihren Platz haben, zusammenhalten und funktionieren kann. Wie regeln wir unser Zusammenleben und wie kann sich jede und jeder einbringen? Wie können Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zusammenfinden und Entscheidungen treffen? Letztlich ist das eine der großen Menschheitsfragen.“
Ein hohes Ziel, finde ich. Aber was ist mit Menschen, die kein Interesse an einem guten Zusammenleben haben? Oder dazu nicht in der Lage sind? Klara erzählt von der Schule, die sie bald nach ihrem Studium als Teil eines Teams gegründet hat. Berlin-Wedding gilt als ein schwieriges Pflaster. Viele Bewohner des historischen Arbeiter-Stadtteils haben einen Migrationshintergrund. Viele davon sprechen kein oder nur schlecht Deutsch. Dazu kommen Menschen mit chronischen Krankheiten und solche, die einfach keine Perspektive für ein gutes Leben für sich selbst oder ihre Kinder sehen.
Während meines Studiums habe auch ich für einige Zeit im Wedding gelebt und habe mich oft gefragt, wie man gerade den Jugendlichen dort eine Perspektive eröffnen kann. Es gab immer wieder Brandbriefe von Lehrern, die an der Situation verzweifelten. In der Presse war vom Burn-Out vieler Lehrerinnen und Lehrer die Rede. „Mit vielen Schülern aus dem Wedding funktioniert Bildung nicht,“ – so sagten manche Politiker und Pädagogen damals. Viele hatten den Stadtteil zumindest teilweise aufgegeben. „Das hat mich eher angespornt“, erinnert sich Klara. „Ich wollte den Gegenbeweis antreten: Wenn es nur eine einzige Schule schafft, dann entkräften wir diese Behauptung.“
Klara spricht immer wieder davon, einen Raum zu schaffen, in dem sich Menschen begegnen können. „Die Erfahrung meiner Kindheit hat mir sehr geholfen: Wir bekamen oft Besuch von Menschen aus der ganzen Welt. Die saßen bei uns am Tisch, und wir haben uns verstanden, ohne dass wir die gleiche Sprache gesprochen hätten. Ich habe damals verstanden: Das äußere Umfeld ist nicht so entscheidend. Wir brauchen die Sicherheit des Äußeren, etwa eine gemeinsame Sprache oder Kultur nicht zwingend. Wir können einen Raum schaffen, in dem wir uns mit all unserer Unterschiedlichkeit begegnen können. Diese Erfahrung vom Küchentisch in Ottmaring hat mich bei meiner Arbeit an der Berliner Schule getragen.“

2014 war es so weit. Die Quinoa-Schule in Berlin-Wedding startete mit einer siebten Klasse mit 26 Schülerinnen und Schülern. Nur vier Familien zahlten Schulgeld, in nur sechs Haushalten wurde Deutsch gesprochen. Einige Schüler hatten schon mehrere Schulwechsel hinter sich oder hatten Mobbing-Erfahrungen gemacht. „Quinoa, wie das Getreide?“, wundere ich mich. Quinoa ist der Name eines Getreides, das wegen seines hohen Nährstoffgehalts den Hunger auf der Welt bekämpfen könnte. Die Gründer wollten mit der Quinoa-Schule den Hunger der Kinder im Wedding bekämpfen. Den Hunger nach Bildung, nach besseren Chancen. „Wir haben es umgedreht: Nicht die Schüler mussten sich einem vorgegebenen Rahmen anpassen, sondern wir haben den Rahmen so gestaltet, dass alle eine Chance haben.“ Damit alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Bedürfnisse betreut werden konnten, unterrichteten immer zwei Lehrer gleichzeitig. Auf dem Stundenplan stand auch das Fach „Zukunft“. „Wir haben einen Raum geschaffen, in dem die Schüler ihre Stärken entdecken können – unabhängig vom Lehrplan“, erklärt Klara. Es gab ein Regelwerk, das gemeinsam von Schülern und Lehrern erarbeitet und bei Bedarf angepasst wurde. Das Ergebnis gab den Gründern recht: Die Abschlusszahlen waren und sind besser als an anderen Schulen im Wedding. (www.quinoa-bildung.de)
Nach fünf „zugegeben sehr anstrengenden Jahren“ verlässt Klara das Projekt, um eine Ausbildung in systemischer Beratung zu machen. Vieles, was sie intuitiv schon seit Jahren tut, bekommt für sie dadurch eine wissenschaftliche Grundlage.
Seither hat sie zwei Unternehmen mitbegründet, die Veränderungsprozesse unterstützen – zunächst „unlearn“ mit Hanno Burmester und vor einem Jahr „noumenal_space“ mit der Münchner Kollegin Eva Kaul. Klara und Eva begleiten Menschen, Teams, Unternehmen oder Organisationen in ihrer Entwicklung. „Wir unterstützen bei Veränderungsprozessen durch Workshops, Coaching, Beratung und Mediation“, erklärt Klara. Unter anderem hat Klara in den letzten drei Jahren in einem Projekt gearbeitet, das von der EU gefördert wurde. Es ging darum, Wege aufzuzeigen, wie zukünftig politische Prozesse gestaltet werden können. „Die Mehrheit überstimmt die Minderheit, so läuft es üblicherweise“, erklärt Klara. „Es bilden sich Lager, es werden Linien gezogen. Konflikte werden wegmoderiert. Das ist im System so angelegt. Es geht aber nicht um eine oberflächliche Befriedung, also nicht um den „kleinen Frieden“, sondern um einen „großen“ – und der ist nicht darauf angewiesen, dass alles immer harmonisch ist. Wir suchen nach anderen Formen der Beteiligung, damit sich jede und jeder einbringen kann und gemeinsam an etwas Neuem arbeitet. Politische Teilhabe ist mehr, als alle paar Jahre wählen zu gehen.“

Für Klara geht es auch in diesem Projekt, ähnlich wie schon bei der Schulgründung, um grundsätzliche Fragen der Zukunft der Demokratie und zum Zusammenleben einer scheinbar gespaltenen Gesellschaft. Echte Demokratie ist nur dann möglich, wenn es einen Raum gibt, in dem Menschen in all ihrer Verschiedenheit verantwortungsvoll miteinander umgehen.
„Mit weniger gibst du dich nicht zufrieden, oder?“, frage ich sie bewusst provozierend. Klara denkt einen Augenblick nach. Sie kommt zurück auf ihre Zeit in Ottmaring. „‘Liebe deinen Nächsten‘, dieser Satz ist eigentlich eine Aufforderung zu politischem Handeln. Der Satz bedeutet für mich, sich auf den anderen einzulassen, ihn nicht in eine Kategorie einzuordnen und ihm auf Augenhöhe zu begegnen.“ Für Klara ist der Satz aus dem Evangelium eine Aufforderung zu echtem Dialog: „Begegnung bedeutet, mich dem anderen zuzumuten – mit dem was ich bin, was ich sehe, mit meinen Erfahrungen. Und umgekehrt lasse ich zu, dass mein Gegenüber sich einbringt, mit seinem Gewordensein.“
„Gewordensein“ ist ein typisches Klara-Wort, das sie im Gespräch immer wieder benutzt. Sie meint damit, dass jeder Mensch eine Geschichte hat mit Erlebnissen, Erfahrungen, Prägungen, die ihn zu der Person haben werden lassen, die er heute ist.
Schulgründung, Unternehmerin, Politik und nicht zuletzt Familienmensch. „Also doch die Überfliegerin, der immer alles gelingt?“, frage ich und kenne die Antwort im Grunde schon. „Nein, wirklich nicht. Ich bin oft auch gescheitert. Dinge haben nicht so funktioniert, wie ich sie zunächst erhofft hatte – privat und beruflich. Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass Dialog nicht immer erfolgreich sein muss.“ Sie denkt kurz nach. „Ich würde sogar noch weitergehen: Es ist entlastend zu wissen, dass es so ist. Wenn jedes Gespräch gelingen muss, dann macht dieser Erfolgsdruck den Raum eng.“ Da ist er wieder, der Raum. „Hast du trotzdem so etwas wie eine Lebensweisheit, etwas das dir Mut macht?“ – „Ich bin bereit, mich immer wieder überraschen zu lassen. Leben verläuft oft ganz anders als erwartet. Und alles gehört dazu und macht aus mir den Menschen, der ich heute bin.“
Die Zeit auf dem Bildschirm ist abgelaufen. Wir müssen beide zurück an unseren Arbeitsplatz. Wir verabreden uns zu einem baldigen persönlichen Treffen. „Du unterschätzt völlig den Eindruck, den du bei mir hinterlassen hast“, hatte sie zu mir gesagt. Dieses Mal ist es umgekehrt.
Christian Bahlmann


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2023.
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