Das Kloster als Bühne
Begegnung mit dem Künstler und Mönch Eugen Bollin
im Innerschweizer Kloster Engelberg
Die Glocken der Klosterkirche Engelberg in der Zentralschweiz läuten froh zum Sonntagsgottesdienst: Sennen, Trachtenfrauen, Kinder, Jung und Alt, ziehen feierlich in das bunt geschmückte Gotteshaus ein. Es ist „Älpler-Chilbi“, Erntedank, der höchste Feiertag des Jahres für die Bergbauern.
Bei ihrem Anblick kommt mir in der warmen Herbstsonne Anfang Oktober eine naturalistisch-poetische „Wort-Skizze“ des hier beheimateten Benediktiner-Paters Eugen Bollin in den Sinn:
Sommer
Der Bartsenn, mächtiger
Schaufler, schwärzt mir
das Uhrglas. Die Hitze
stellt Zeiger und Schritte,
jodelt im Holz, kracht.
Waldwasser brakt,
schattet die Kühe.
Mit seiner knappen, ausdrucksstarken Beschreibung des „Bartsenn“, des vollbärtigen Almhirten, ruft der Kunstmaler und Lyriker mitten in der beeindruckenden Bergwelt ein ebenso imposantes inneres Bild in mir wach. Die Natur, das Bodenständige, das Zeitliche, die Hitze, das Holz und das Waldwasser, den Schatten und die Kühe. Sind das, so frage ich mich, auch Chiffren für die eigene Innenwelt des Mönchs? Das ist nur eine der vielen Fragen, die ich dem bekannten Benediktiner stellen möchte.
Seit er 1960 ins Kloster eintrat, hat Bollin als „Zeichnungs-Lehrer“ am Gymnasium des Klosters Generationen von jungen Menschen angeleitet. Seit 1973 wirkt er auch als Zeichner und Maler, später auch als Lyriker. Seine Werke haben ihm Kunstpreise beschert und waren in Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Ob es für ihn einen Zusammenhang von Kunst und Seelsorge gibt, möchte ich schon lange von ihm wissen.
Nach dem schönen Feiertag ist es am Montag so weit: Ich schreite durch das offene Klostertor. Pater Eugen erwartet mich schon und führt mich ins „Garten-Zimmer“: Warmes Holzgetäfel mit wunderschönen Intarsien von Pflanzen- und Blumenmotiven ziert die Wände, Kunsthandwerk eines verstorbenen Klosterbruders. Wir setzen uns für unser Gespräch an den Tisch in der Mitte des Raumes; durch die Fenster fließt helles Licht.
Schnell wird klar: Für Pater Eugen ist „Garten“ ein faszinierender Raum. „Schon als Kind, damals in St. Gallen, war das so.“ Mit Garten verbindet er Arbeit und Spiel. Und der Klostergarten ist heute für ihn der Ort, an dem er die Jahreszeiten intensiv erlebt. „Hier kann ich aber auch biblische Szenen gedanklich ansiedeln wie Passion und Auferstehung Jesu. Etwa wenn ich mir mit dem alten Bruder Martin in der Rolle Christi und einer ehemaligen Schülerin, die mir als Maria von Magdala begegnet, das Ziel setze, biblisches Bildgut zu aktualisieren. In zeichnerischen Schritten gestalte ich Dinge, Personen, Orte und Geschehen in freier Weise, ohne die Grundthematik Garten ganz zu verlassen.“
Schon früh erscheint im künstlerischen Schaffen Bollins das Motiv „Klostertor“: „Es ist für mich Symbol des Durchgangs von diesem Leben in eine andere Welt. Die Aussage Jesu ‚Ich bin die Tür‘ greift auf meinem Erlebnisfeld weit aus und erreicht Menschen, die hier mit ihren Erfahrungen, Wünschen, Belastungen, Träumen ein- und ausgehen.“ Der Benediktinermönch ist sich bewusst, dass das Kloster für manche zur Schnittstelle werden kann und „zum Zeichen der Hoffnung auf Erfüllung, theologisch gesagt: auf Erlösung. Oft zeige ich das Tor selbst als Engel mit ausgebreiteten Armen. Engel stoßen heute auf große Resonanz, auch bei nicht-religiösen Menschen, jeder und jede kann ein Engel sein,
Engel sind eine Brücke zur Welt“, ist Pater Eugen überzeugt.
„Das Motiv des Engels kam mir zu“, beschreibt Eugen Bollin. Eine Balletttänzerin war als Schülerin in den Zeichenunterricht des Mönchs gekommen. Mit ihrer kleinen Tochter tanzte sie auch als Modell bei ihm im Atelier. „Diese Leichtigkeit ließ mich später die Figur ‚Klostertor‘ zur Engelsgestalt ausformen, wobei mir natürlich bewusst blieb, dass Tanzende keine Engel sind und Engel keine Tanzenden. Mir ging und geht es aber um die Leichtigkeit des Seins, die uns letztlich nach dem Tod verheißen ist, und die wir nebst aller irdischen Schwere manchmal auch hier spüren dürfen.“
Tanzlied
Wenn du tanzest
in der Staffelei
wiegen sich die Lichter,
Kinder, Mönche, einerlei,
Bilder sind Gesichter.
Baum
Baum tanzen,
Hände greifen den Kreuzmast,
ordnen die Passionsblätter.
Wo der Rücken sich beugt,
strömt Taube weit.
Im Mai wird dein grosser Baum
am Fluss wieder grün sein.
Bollin findet immer wieder einen Weg, welcher der Sprache der Bibel folgt, doch frei und subjektiv aktuelles Erleben und biblische Szenen verknüpft und interpretiert – in einer Bildsprache, die im Realistischen bleibt, jedoch Bilder verschiebt, verändert, vertauscht. Wie denn? „Wenn Magdalena Jesus liebt, geht sie mit ihm gleichsam ans Kreuz, wird identisch mit ihm und seinem Leiden, aber auch mit seiner Freude an Ostern. Umgekehrt übernimmt Jesus die Trauer der Frau. Diesen Tausch kann man bildnerisch zeigen, indem also das Gedankliche in der Darstellung verselbstständigt wird. Das Bild ist dann nicht mehr Ausdruck einer Szene, sondern eines Gedankens. In einem anderen Bild zeichnet sich im Antlitz der Magdalena das Kreuz Christi ab, so nämlich, dass das Gesicht noch in der realistischen Bildsprache bleibt, doch anders als nur realistisch zu lesen ist. Es treten in den Bildern, die ich meine und selbst male, also keine Fremdbilder auf, Dinge, die keinen szenischen Bezug haben, sondern Zeichen, die direkt mit dem Geschehen verbunden sind“, führt der Künstler aus.
Eugen Bollin malt und schreibt immer mit personalem Bezug, Ausgangspunkt ist sein Erleben, nicht zuerst der biblische Bereich, doch kommt dieser indirekt auch dazu. Ergibt sich in seiner künstlerischen Arbeit dann also eine Verbindung von Kunstschaffen und Seelsorge? „Das ist gewissermaßen ein ‚heißes Eisen‘ für mich. Die Leute haben vom Mönch, der in einem Kloster Kunst schafft, ein bestimmtes Bild. Das nahe liegende ist die Ikone. Dieses Bild ist natürlich richtig, hat einen klassischen Hintergrund, vor allem in der Ostkirche.
Nun ist es aber möglich, auch auf anderem Weg zu ‚Ikonen‘ zu kommen. Eros, Freundschaft, ein realistischer Weltbezug spielen dabei eine wesentliche Rolle. Ich trete in Beziehung, arbeite mit Modellen, Figuren: Madeleine etwa war Schülerin hier am Gymnasium; sie heiratete nach der Matura einen jungen Ausländer ohne Arbeit und wohl auch ohne rechte Papiere. Daran zerbrach sie fast. Eines Tages stand sie wieder in meinem Atelier; ich erkannte sie kaum mehr. Alles in Scherben, eine große Not. Es folgte eine innere und äußere ‚Restaurationszeit’, begleitet mit Gebet. Sie fand wieder zum Leben zurück.“ In dieser Zeit entstand eine längere Abfolge von Bildern. Wie auch von der Balletttänzerin und ihrem Kind: „Als sie vor vielen Jahren im Atelier tanzte, war auch sie in einer schwierigen Situation. Eine große Staffelei symbolisierte ihr in ihrem Tanz das Kreuz. Nach dieser Zeit lebte sie lange in Paris. Erst vor Kurzem kam es wieder zu einer Begegnung: ‚Ich bin an Krebs erkrankt‘, sagte sie zu mir, ‚jetzt ist der Ernstfall eingetreten: Ich tanze im Geiste mit dem Staffelei-Kreuz und glaube, dass mich nun eine andere Welt erwartet.‘“ Obwohl sie nicht kirchlich-religiös geprägt war, brachte sie dem Mönch damit zum Ausdruck, dass sie an eine Zukunft über den Tod hinaus glaubte.
Madeleine, die Tänzerin und ihre kleine Tochter, die Mönche, …: „Wichtig ist mir, dass ich nie bewusst ‚Seelsorge‘ anstrebe, sondern versuche, künstlerisch glaubhaft zu sein. Ich hoffe, dass diese Tendenz dann auch spirituell stimmen kann. Das Kloster, die Umgebung sind die ‚Bühne‘ für mein Kunstschaffen.“
Der Künstler-Mönch steht dabei immer neu suchend in einem Spannungsfeld: „Als Theologe und Kunstschaffender zugleich sehe ich, dass meine Berufung zwar in der Kunst liegt, dass ich damit aber grundlegend auch theologische Aussagen machen möchte. Tanzende und Engel haben also das gleiche Motiv: Leichtigkeit des Seins. Aber auch, wenn ich die Engel vorziehe: Anbetung Gottes. Bei mir geht das nicht ohne Christologie. Es kommen also das Geheimnis von Passion und Auferstehung Christi und die Heimkehr zum Vater dazu. Praktisch unberührt von diesen Kreisen sind bei mir aktuelle Fragen, die mich natürlich ebenso interessieren.“
Nach unserem Gespräch steigen wir die Treppen hoch ins Atelier. Der Maler holt eine Reihe von Bildern von der Balletttänzerin und ihrer Tochter hervor. Er hat sich das weiße Malergewand angezogen. „Wenn ich male, dann male ich, es ist nicht ‚Gebet‘. Die Kunst hat ihre eigene Dynamik: Der Künstler muss sich entwickeln, um ein guter Künstler zu werden. Theologie und Spiritualität hingegen haben als Ziel die Heiligkeit.“
Die Atelier-Räume riechen nach feuchter Farbe: Auf einer Kommode liegen alte Dachziegel, bemalt mit Engeln und Tanzenden … Überall wohlgeordnet die Bilder mit den Themen des Künstlers in vielen Variationen.
Bollin beherrscht Maltechniken mit Öl, Acryl, Bleistift, Tinte – auf Holz, Leinwand, Papier und unterschiedlichsten Materialien. Sein Malstil ist expressiv, den Expressionisten nahe, in freiem Umgang mit Farbe und Form. In Bild und Wort interpretiert er subjektive Regungen, spontan „Durchfühltes“ und findet so zu seiner ganz eigenen Bildsprache. Der Symbolismus spielt dabei eine wichtige Rolle: Aus Bruchstücken der realen Welt setzt Bollin Symbole neu zusammen und schafft so eine Welt der Schönheit, der ideellen, ästhetischen und spirituellen Vollkommenheit, in der sich Sinnhorizonte in der Vereinigung der inneren und äußeren Welt erahnen lassen. Bild und Wort werden zum Ausdruck einer mystischen Kunstwelt, die für Bollin gleichzeitig „Realität“ ist, nicht ohne Hoffnung auf gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen.
Die Begegnung mit Eugen Bollin an diesem schönen Herbsttag wird für mich zur Gottesbegegnung: „Ich habe den Herrn gesehen!“, ruft Maria Magdalena voll Freude am Ostermorgen. Auch mir ist es ein wenig so ergangen: der transzendente Gott, der im Geschöpflichen aufleuchtet.
Evelyne Maria Graf
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2023.
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