5. April 2023

Wahrheit als Begegnung

Von nst5

Einander zuhören, annehmen, Verschiedenheit aushalten.

Von der verändernden Kraft der Begegnung.

Ehrlich gesagt: Wir haben lange gezögert, „Queer“ zum Schwerpunktthema einer Ausgabe der NEUEN STADT zu machen. Nicht, weil es uns nicht wichtig schien. Auch nicht, weil wir Angst hatten, uns zu weit aus dem Fenster zu lehnen. (Oder vielleicht doch?)
Auf jeden Fall haben wir uns gefragt: Was können wir Einheitsstiftendes sagen zu einem Thema, das die Christen nicht nur in der katholischen Kirche vor eine Zerreißprobe stellt – ohne dass wir dabei im Ungefähren bleiben?
Immer deutlicher haben wir gespürt: Es geht nicht in erster Linie um ein Thema. Es geht um Menschen mit ihren Nöten und Verletzungen, mit ihren Wünschen und Sehnsüchten. Und zwar auf allen Seiten: vor allem bei den queeren Menschen selbst, bei ihren Familienangehörigen, Freundinnen und Freunden, aber auch bei denen, die ihre Glaubensüberzeugung infrage gestellt sehen, dass der Mensch von Gott als Mann und Frau geschaffen worden ist und eine körperliche Liebesbeziehung nur zwischen Mann und Frau im Rahmen der Ehe ihren Platz hat.
So haben wir uns mit langem Vorlauf und großem Respekt an die Erarbeitung dieses Heftes gemacht. Wie bei wenigen anderen Ausgaben zuvor, haben wir das Gespräch gesucht: mit queeren Menschen und ihren Angehörigen; mit einem Theologen, einem Kulturwissenschaftler und einer Kommunikationsexpertin aus der Fokolar-Bewegung und Freunden aus evangelikalen Gemeinschaften.

Illustration: (c) elenabs (iStock)

Während die einen in der Haltung, queere Menschen bedingungslos willkommen zu heißen, eine Relativierung der kirchlichen Lehre und der Treue zum Wort Gottes erkennen, sehen die anderen gerade darin die kirchliche Sendung verwirklicht, ausnahmslos jedem Menschen die Liebe Gottes zuzusprechen.
Diese Gespräche haben uns geholfen, klarer zu verstehen, wozu wir mit dieser Ausgabe beitragen möchten: Vielleicht ist es weder die Stärke noch die erste Aufgabe der Fokolar-Bewegung, klar und abgrenzend Position zu beziehen, sondern Räume Izu ermöglichen, in denen eine Begegnung mit Christus stattfinden kann, Räume, in denen er sprechen kann, Räume, in denen Sein Wort wieder Resonanz findet und gehört wird: Jesus als Maß und Mitte einer jeden Gemeinschaft, die sich auf ihn beruft.
Was gehört dazu, damit ein solcher Raum der Begegnung mit Christus und anderen Menschen entstehen kann?
Zunächst gilt es, ein „Bündnis der Liebe“ zu schließen oder zu erneuern, das sich am „neuen Gebot“ Jesu (Johannes 13,34) orientiert und besagt, dass die anderen für mich Geschwister bleiben, unabhängig von ihrer inhaltlichen Positionierung. Wenn ein solches Bündnis die unumstößliche Basis bildet, dann werden wir einander zuhören, einander annehmen und jede Fremdheit – so schmerzlich sie auch sein mag – aushalten können; wir werden die Not und die Sehnsucht der anderen in uns aufnehmen und erkennen, wo die eigene Position verletzend oder ausgrenzend ist; und wir werden zulassen, dass die oder der andere mich verändert. Im besten Falle machen wir die Erfahrung, dass ich gerade der anderen bedarf, um ganz ich selbst sein zu können.
In einer solchen Begegnung können wir – im gemeinsamen Hören auf Gottes Wort – Schritt für Schritt verstehen, wo ein Konsens nötig ist, damit die erwünschte und unabdingbare Vielfalt eine „Vielfalt in Einheit“ sein kann. Auf diese Weise kann sich „Wahrheit als Begegnung“ ereignen, oder wie es der Prager Soziologe Tomas Halik kürzlich mit Blick auf die Christen formulierte: „Wir sind nicht die Eigentümer der Wahrheit, wir sind Freunde der Wahrheit. Und diese Wahrheit ist Jesus.“

Illustration: (c) elenabs (iStock)

Wenn es stimmt, dass dieser Weg allen, die ihn gehen, etwas abverlangt, dann ist es aber nur redlich zu sagen, dass hier besonders die große Mehrzahl unter uns gefordert ist, die heterosexuell ist und sich eindeutig als Mann oder Frau empfindet. Queere Menschen haben nämlich einen solchen Raum der Begegnung in der Kirche und auch in der Fokolar-Bewegung über Jahre und Jahrzehnte hinweg nur allzu selten erlebt. Da gab (und gibt) es – oft unbewusst und eher reflexhaft – Ausgrenzung, Diskriminierung und infolgedessen immer neue Verletzungen – Haltungen und Handlungen, die sicher nicht im Sinne des Evangeliums waren und sind.
Umso wichtiger also ist die Bereitschaft, sich zu informieren und – wo immer möglich – die Begegnung immer neu, immer vorbehaltloser zu suchen. In diesem Bemühen nachzulassen, auf diesem beidseitig zu beschreitenden Weg zueinander stehenzubleiben, ist jedenfalls keine zukunftsweisende Option.

In der Hoffnung, diesem Weg zu dienen,

  • kommen auf den nächsten Seiten queere Menschen mit ihrer Geschichte und ihren Wünschen zu Wort;
  • versuchen wir Einblick in das theologische Ringen in dieser Frage zu geben;
  • möchten wir Wissen vermitteln und Anregungen geben, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen.

Die Art und Weise, in der gesellschaftliche Auseinandersetzungen geführt werden, hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen gewandelt. Namentlich die sozialen Medien machen es viel leichter, sich an den Debatten zu beteiligen.
Gleichzeitig werden die eigene Meinung und das eigene Anliegen häufig mit einer gewissen Empörung vorgetragen. Da gibt es dann schnell nur noch schwarz und weiß, richtig oder falsch. Wer mir zustimmt, gehört zu den „Guten“, wer nicht, steht auf der „falschen“ Seite.  
Könnte nicht vor diesem Hintergrund der unverbrüchliche Glaube an die „Wahrheit als Begegnung“ neu zur Geltung kommen, der Glaube an die Zusage des christlichen Gottes, da präsent zu sein, wo sich Verschiedenheit ereignet? Denn in ihm erkennen sich selbst vermeintlich unüberwindliche Gegensätze – immer ansatzhaft und in aller Gebrochenheit – als Ausdruck einer „Kultur der Gegenseitigkeit“, von der etwa im Epheserbrief 2,16-18 die Rede ist: „Er (Christus) hat in seiner Person die Feindschaft getötet. Er kam und verkündete den Frieden: euch, den Fernen, und Frieden den Nahen. Denn durch ihn haben wir beide in dem einen Geist Zugang zum Vater“: Ist das nicht das Angebot der Christen an unsere Gesellschaft in ihrem Ringen um Zusammenhalt – und Diversität? Und könnten dabei nicht gerade die Menschen gefragt sein, die sich der Bitte Jesu um die Einheit verpflichtet wissen? Wenn wir also neu lernten, von dieser Gemeinschaft in Christus Zeugnis zu geben, dann könnten die Kirchen und auch die Fokolar-Bewegung ja vielleicht wirklich zu einem prophetischen Zeichen der Hoffnung werden, wie sich in einem evangeliumsgemäßen Umgang mit Spannungen und Konflikten neue Wege zur Einheit aller Menschen eröffnen.
Peter Forst


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