„Heimat“ gibt es nicht nur in der Einzahl
Seit 2004 lebt die gebürtige Äthiopierin Betty Chaka in Österreich.
Sie genießt es besonders, wenn sie helfen kann, dass andere Zugewanderte sich dort heimisch fühlen können.
„Es war wie bei einem Kind, dass nach nur wenigen Unterrichtstunden am Klavier schon vorspielen soll.“ Betty Chaka steht nicht gerne im Mittelpunkt. Erst recht damals nicht, als sie mit 16 nach Österreich kam: „Ich sollte immer von mir erzählen und wollte es eigentlich gar nicht. Ich war doch gerade erst angekommen.“
Betty Chaka, mit vollem Namen Bethlehem Chaka Ayano, stammt aus Äthiopien. Seit sie 15 Jahre alt war, arbeitete sie – neben der Schule – für die Salesianer Don Boscos. Diese baten sie zu übersetzen, als Gerhard Fallent aus Österreich in ihre Heimatstadt Addis Abeba kam. Er koordinierte einige Hilfsprojekte in Äthiopien und wollte sich über den Stand der Dinge informieren. Während Betty für ihn übersetzte, fragte Gerhard Fallent sie unvermittelt: „Warum trägst du ein Kopftuch mit der US-Flagge?“ – „Weil ich dorthin will“, antwortete sie kurz und entschieden.
„Ich war das älteste von drei Kindern und dachte, ich könnte meine Familie besser unterstützen, wenn ich ins Ausland ginge und eine Ausbildung machte“, erläutert Betty heute ihre damalige Aussage. So stimmte sie auch ohne lange zu zögern zu, als Gerhard Fallent sie fragte, ob es denn auch Österreich sein könnte.
In Äthiopien war Betty mit ihrer Mutter Netsuh und ihren beiden Geschwistern Addis und Abel aufgewachsen. Ihre Eltern hatten sich recht bald nach der Geburt des dritten Kindes getrennt. „Meine Mutter war vielleicht noch zu jung“, meint Betty. Doch die Beziehung zu ihrem Vater Chaka blieb gut. „Er war ein guter Mensch und hat als Politiker vielen Menschen geholfen“, erinnert sich Betty. Eine Wahlperiode lang war er sogar Abgeordneter im äthiopischen Parlament. 2012 ist er gestorben; ein schwerer Moment für Betty, die sich selbst als Vaterkind bezeichnet. „Ich habe viel von ihm.“
Von ihrer Mutter sagt Betty, sie sei die stärkste Frau, die sie kenne. Sie sei liebevoll und streng zugleich gewesen, wohl auch, weil sie sowohl die Rolle der Mutter als auch die des Vaters übernehmen musste.
Ihre Schwester Addis ist Soziologin und arbeitet als Flugbegleiterin. Ihr Bruder Abel hat Management studiert und ist stellvertretender Schulleiter. „Inzwischen bin ich, die ich wegen der Ausbildung ausgewandert bin, die Einzige unter uns Geschwistern, die nicht studiert hat“, meint Betty augenzwinkernd. „Zumindest noch nicht.“
In ihrer Gastfamilie im oberösterreichischen Laussa wurde Betty herzlich aufgenommen – „wie ein eigenes Kind“. Zur Familie gehörten schon zwei Kinder, die beide etwas älter waren als sie. Im Mai 2004 war Betty in Österreich angekommen. Schon vier Monate später, im September, begann die Ausbildung an der Hotelfachschule in Weyer. Sie sprach nur Englisch, der Unterricht aber war auf Deutsch. Die Mitschüler waren am Anfang nicht besonders nett, und so erfasste sie bald großes Heimweh. „Ich habe die Menschen vermisst. In Afrika sind überall Menschen.“ Eines Tages war es ihr einfach zu viel, und sie wollte nur nach Hause. Sie nahm ihren Pass und ihr Sparbuch mit 200 Euro und sagte zur ihren Gasteltern: „Ich gehe.“
Soweit kam es nicht; zum Glück, wie Betty heute sagt. Aber es zeigt, wie schwer der Anfang war. Wie viele weitere Hindernisse ihren Weg begleiteten, wird deutlich, wenn man sich die Etappen von Bettys Leben in den letzten 20 Jahren vor Augen führt: Nach dem Abschluss der Hotelfachschule musste sie für eine Zeit zurück nach Äthiopien. Obwohl sie einen Arbeitsvertrag mit einem Hotel vorlegen konnte, hatte sie keinen Aufenthaltstitel bekommen. Sie gab nicht auf und kam als Au-Pair-Mädchen wieder nach Österreich. Als sie auch diesmal keine Arbeitserlaubnis bekam, machte sie die Matura (Abitur) in Wien. Danach fand sie eine Anstellung in einem familiengeführten Vier-Sterne-Hotel im niederösterreichischen Maria Taferl. Die Inhaberfamilie machte den Behörden deutlich, dass Betty eine „Schlüsselkraft“ sei, also nicht durch eine Bewerberin aus Österreich oder einem EU-Land zu ersetzen sei – eine Behauptung, die streng geprüft und schließlich anerkannt wurde. Später arbeitete sie in einem Modegeschäft und als Flugbegleiterin.
Zwischendurch fragte sich Betty immer wieder, ob sie noch ein Studium aufnehmen sollte. Sie bewarb sich für das Fach Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien und bestand die Aufnahmeprüfung. Doch sie musste sich eingestehen, dass ein solches Studium neben der Arbeit nicht zu realisieren war.
Dann kam die Corona-Pandemie, und während des Lockdowns konnte sie ihrer Arbeit als Flugbegleiterin nicht nachgehen. Die erzwungene Ruhe gab Betty die Gelegenheit, sich die Frage zu stellen: „Was möchte ich wirklich in meinem Leben tun?“ Die Antwort, die sie in sich wahrnahm, nämlich „Sozialarbeit“, kam für sie selbst zunächst überraschend. Hatte sie sich doch über viele Jahre hinweg in der Tourismusbranche gesehen. Dann aber wurde ihr bewusst, dass sie bereits als Teenager bei den Salesianern Don Boscos eine Art Berufung zum Sozialen gespürt hatte.
Die Gelegenheit zu einer solchen Arbeit ergab sich, als ihr eine Stelle bei der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) angeboten wurde. Sie sollte in einer Einrichtung 300 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vor allem aus Syrien, Afghanistan und Somalia – einige wenige auch aus der Ukraine und Russland – darin unterstützen, in Österreich Fuß zu fassen. Für 25 von ihnen war sie Bezugsbegleiterin. Sie nutzte das Vertrauen, das die Jugendliche zu ihr fanden, um ihnen das Leben in Österreich leichter zu machen; etwa indem sie darauf hinwies, wie wichtig es sei, die deutsche Sprache zu lernen. „Ich hatte sicher den Vorteil, dass auch ich nicht aus Österreich stamme. Ich hatte zwar keine Flucht hinter mir, aber auch ich hatte viel gelitten und Zeit gebraucht, bevor ich mich hier wohlfühlte.“ So konnte sie nicht nur fachliche Tipps weitergeben, sondern auch ihre eigene Erfahrung teilen. „Als selbst Zugewanderte anderen zu helfen, sich in Österreich heimisch zu fühlen, war eine schöne Aufgabe.“
Für Betty selbst war zu diesem Zeitpunkt Österreich längst zur zweiten Heimat geworden. Wahrscheinlich wäre es sogar treffender zu sagen: eine ihrer beiden „Heimaten“. Wer mit Betty spricht, wundert sich zunehmend, dass es das Wort Heimat nur in der Einzahl gibt.
Noch auf ihre Zeit in der Hotelfachschule geht ein vielsagender Moment zurück: Ihre Klasse besuchte Frankreich und wurde dort in die Vorzüge des französischen Weins eingeführt. „Bei uns in Österreich gibt es auch gute Weine“, hörte sich Betty plötzlich sagen. Ihre Lehrerin strahlte sie an; erst diese Reaktion ließ Betty verstehen, was sie da gerade gesagt hatte.
Inzwischen lebt Betty länger in Österreich, als sie in Äthiopien gelebt hat. Sie kann und mag sich nicht zwischen beiden Ländern entscheiden. Vielmehr versucht sie immer wieder neu abzuwägen: Was will ich bewahren, weil es zu mir gehört, auch wenn ich dafür auf Unverständnis stoße? Dazu zählen für Betty der Glaube, ihre Zugehörigkeit zur äthiopisch-orthodoxen Kirche und der Gottesdienstbesuch in ihrer Gemeinde „St. Kidane-Mehret und Erzengel St. Gabriel“ in Wien-Heiligenstadt. „Du gehst in die Kirche?“, bekommt sie häufig zu hören. „Der Gottesdienst dauert vier Stunden? Das ist doch veraltet!“ – „Dann bin ich eben veraltet“, meint Betty dazu, und aus ihrem Mund klingt das nicht bockig, sondern eher selbstbewusst-verschmitzt.
Andere Aspekte der Kultur ihres Herkunftslandes versucht sie nicht nur zu bewahren, sondern bekanntzumachen. Die äthiopische Kaffeezeremonie etwa ist für sie eine Gelegenheit, von ihrer Herkunftskultur zu erzählen und Beziehungen zu leben. Beim Vienna Coffee Festival im September hatte Betty einen Platz in der Marx-Halle, und in Kürze wird es möglich sein, die Kaffee-Zeremonie auf einer eigenen Website zu buchen (www.enatcafe.com).
Bei vielen anderen Aspekten ist es für Betty selbstverständlich, dass sie sich in die Gesellschaft einfügt, in der sie jetzt lebt: Dazu gehören die Sprache, die Verlässlichkeit und die Akzeptanz der Vielfalt.
In der Frage der Staatsangehörigkeit allerdings musste sich Betty zwischen Äthiopien und Österreich entscheiden. Beide Länder akzeptieren in der Regel keine doppelte Staatsangehörigkeit. „Ich habe also meinen äthiopischen Pass abgegeben müssen, als ich die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen habe.“
„Es kommt vor, dass ich meine Hautfarbe vergesse und von anderen daran erinnert werde“, sagt Betty etwas nachdenklich. „Ich fühle mich in Österreich heimisch, und werde von anderen zur Fremden gemacht.“ Es sei nicht ganz leicht, damit umzugehen. Wenn sie höre: „Diese Ausländer!“, dann gibt es Momente, in denen sie selbstbewusst sagen kann: „Ich bin Österreicherin.“ In anderen Momenten trifft es sie. „Wenn ich als Mensch gemeint bin, kann ich auf einen Vorwurf reagieren. Vielleicht ist ja etwas Wahres daran, und ich kann mich korrigieren. Wenn es nur um meine Herkunft geht, habe ich keine Chance. Ich bin aber Betty, nicht Äthiopien.“
Während ihrer Arbeit für das BBU war es ihr wichtig, nicht genauso zu denken und zu handeln: „Meine Aufgabe war es, dass sich die Menschen wohlfühlen, egal, ob sie aus Russland, der Ukraine, Afghanistan, Syrien oder Somalia kommen. Es galt, allen das Gleiche zu bieten, und nicht auf die Herkunft zu achten.“
Traurig und manchmal wütend musste sie feststellen, dass auch Zugewanderte oft nicht nett zu anderen Zugewanderten sind. In besonderer Erinnerung ist ihr eine Begegnung mit einem jungen Mann geblieben, der ihr sagte: „Ich will kein Somalier mehr sein!“, weil er als solcher von anderen Geflüchteten abgelehnt wurde.
Inzwischen arbeitet Betty Chaka für ProSoz, eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Es hat damit angefangen, dass sie fünf Stunden in der Woche bei Beratungsgesprächen für eine Familie aus Äthiopien übersetzt hat. Betty: „Es ist schön, die eigene Muttersprache für etwas Wertvolles nutzen zu können.“
Traurig und manchmal wütend musste sie feststellen, dass auch Zugewanderte oft nicht nett zu anderen Zugewanderten sind. In besonderer Erinnerung ist ihr eine Begegnung mit einem jungen Mann geblieben, der ihr sagte: „Ich will kein Somalier mehr sein!“, weil er als solcher von anderen Geflüchteten abgelehnt wurde.
Inzwischen arbeitet Betty Chaka für ProSoz, eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Es hat damit angefangen, dass sie fünf Stunden in der Woche bei Beratungsgesprächen für eine Familie aus Äthiopien übersetzt hat. Betty: „Es ist schön, die eigene Muttersprache für etwas Wertvolles nutzen zu können.“
Ihre Haupttätigkeit für ProSoz besteht aber darin, dass sie fünf junge Menschen intensiv dabei begleitet, ein eigenständiges Leben führen zu können. Eine Voraussetzung für diese Stelle war, dass Betty innerhalb der nächsten fünf Jahre eine pädagogische Ausbildung abschließt. So hat sie sich für das Fach Bildungswissenschaften an der Universität Wien eingeschrieben. Sie strebt dort einen Bachelor an – ein langgehegter Wunsch könnte nun in Erfüllung gehen.
Auf die Frage hin, was sie sich für die Zukunft noch wünsche, wird die lebhafte Frau einen Moment still: „Es wäre schön, wenn meine Familie näher bei mir sein könnte. Ich glaube, dass Gott einen Plan für mich hat. Das macht mich zuversichtlich. Aber manchmal bin ich auch ein wenig wütend auf ihn, weil ich seinen Plan noch nicht erkenne.“ Ganz zum Schluss kommt Betty noch einmal auf den Beginn des Gespräches zurück: „Zum ersten Mal habe ich heute mein ganzes Leben an einem Tag erzählt,“ sagt sie. Zwischendurch war sie ganz schön bewegt. Nicht nur sie.
Peter Forst
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2023.
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