Passiert
Aus dem Leben mit dem Wort
Nach dem Überfall auf Israel am 7. Oktober kam es zu einer gravierenden Meinungsverschiedenheit zwischen jüdischen und muslimischen Frauen in unserem Gesprächskreis. Die jüdischen Frauen kündigten sogar an, sich von uns zu distanzieren. Wir hatten über viele Jahre eine gute, geschwisterliche Beziehung aufgebaut. Nun schien alles verloren. Die Versuchung zu resignieren war groß. Trotzdem beschloss ich, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. So nahm ich mit beiden Gruppen getrennt Kontakt auf und versuchte, jeweils mit der ganzen Weite meines Herzens zuzuhören. Ich ließ ihnen auch interreligiöses Friedensgebet zukommen, das ich mit einem Muslim verfasst hatte. Daraufhin ergriff eine Muslima die Initiative und schickte eine Nachricht an die jüdischen Freundinnen: Sie drückte ihr Bedauern über die Äußerung aus, entschuldigte sich und konnte ihr Mitgefühl zeigen. Die jüdischen Frauen reagierten sofort; so, als hätten sie auf dieses Zeichen gewartet. Es begann ein gegenseitiges Sich-Verstehen, jede konnte ihren Schmerz, ihre Hoffnungslosigkeit ausdrücken. Aus der Sprachlosigkeit ist so ein neuer Ansatz für ein geschwisterliches Miteinander entstanden.
G.K.
Für die Teamsitzung war alles vorbereitet. Spontan fügte ich hinzu: „Vor einem Monat fand das Attentat in Israel statt. Jetzt herrscht dort Krieg. Ich schlage eine Schweigeminute für alle Opfer und Angehörige vor.“ Alle nickten. Nach einigen Sekunden begann eine Mitarbeiterin zu weinen. Ich ging zu ihr und umarmte sie. Sie beruhigte sich, wollte aber einen Moment hinausgehen. Ich fühlte mich ohnmächtig und sagte in die Runde, dass ich dies nicht beabsichtigt hatte. Ein Mitarbeiter, der zuletzt viele Herausforderungen zu stemmen hatte, meinte, dass auch dies Platz unter uns haben dürfe. Ich wechselte die Reihenfolge der Traktanden und begann mit den Informationen. Die Mitarbeiterin kam zurück und brachte sich wie üblich ein. Am Schluss bat sie um das Wort: „Ich danke für den Mut und die Idee, eine Schweigeminute zu machen. Ich lebe in zwei Welten: Arbeit und jüdische Familie. Heute hatte diese zweite Welt Platz in meinem Arbeitsalltag und ich fühle mich nicht mehr allein.“
A.I.
An meiner Arbeit habe ich auch Kunden jüdischer Herkunft. Mit einem von ihnen habe ich mich in der Vergangenheit immer wieder über technische Fragen am Telefon „überworfen“. Als nun der Konflikt ausbrach, wünschte ich mir ein Gespräch mit ihm. Aber ich hatte nicht den Mut, einfach anzurufen. Als ein Brief ankam, in dem er ein kniffliges Problem schilderte, schien mir das wie ein Zeichen. Weil ich ihn nicht erreichte, hinterliess ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Zwei Tage später rief er zurück. Ich sagte ihm, wie erschüttert ich war, und fragte, wie es ihm gehe. Er hat mir ausführlich seine Gefühlslage geschildert. Ich habe zugehört und ihm meine Aufmerksamkeit geschenkt. Das kniffelige Anliegen konnten wir dann in einem friedlichen und konstruktiven Rahmen lösen.
B.R.
„Am Freitag muss ich eine Prüfung wiederholen und fünf Tage später noch eine zweite!“, las ich am frühen Morgen in der Nachricht einer jungen Studentin, die für ihr Studium ihr Heimatland verlassen hatte. „Das sind für mich die schwierigsten“, schrieb sie weiter, „und weil das neue Semester schon wieder läuft, hatte ich auch nicht genug Zeit, um mich gut vorzubereiten. Ich fühle mich wie ein verlorenes Kind, weit weg von meinen Eltern. Ich bin allein und habe Angst, denn wenn ich diese Prüfungen jetzt nicht bestehe, wird’s schwierig, mein Visum zu verlängern!“ Ich spürte ihre Last und betete für sie. Dann schrieb ich ihr einen langen Gruß und fügte das Foto einer Tulpe bei, die sich gerade in der Sonne geöffnet hatte. „Danke, dass du mir immer zuhörst und Mut machst. Ich bin so froh, dass ich alles mit dir teilen kann,“ las ich kurze Zeit später.
W.M.
Die fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen waren das Thema der Predigt. Moritz und seine Schwester Chiara hörten mir gespannt zu. So fragte ich sie spontan, ob sie es fies fänden, dass die klugen ihr Öl nicht mit denen geteilt hatten, die keines hatten. „Nee, finde ich nicht“, sagte mir Moritz, „die hätten ja selber dran denken müssen. Das kann einem niemand abnehmen.“ Ich staunte über diese Aussage des Fünftklässlers. Und dann erzählte er weiter ins Mikro: „Wir haben neulich eine Bastelaktion für ein Kinderhospiz gemacht. Da haben wir einen tollen Spruch gefunden: ‚Zum Leben bleibt nicht mehr viel Zeit, doch diese Zeit gilt es VOLL zu leben!‘ Das ist doch auch so bei den zehn Frauen: Die einen haben voll gelebt, die anderen nicht! Die einen hatten Öl mit, die anderen nicht.“
M.W.
Heute rief meine Freundin an. Sie war sehr verzweifelt, weil ihr Mann schwer erkrankt im Krankenhaus liegt. Eigentlich war ich auf dem Sprung und musste los. Aber ich blieb am Telefon. Sie erzählte mir ihre Sorgen und Nöte. Später schrieb sie mir: „Ich danke dir für unser Gespräch, es hat mir sehr gutgetan.“
E.M.
„Kann ich kurz mit dir reden?“, las ich in einer Nachricht. Sie kam von einem Freund aus Afghanistan, dem ich seit seiner Ankunft in Deutschland helfen konnte, sich zurechtzufinden. „Ich kenne einige Familien, die durch das Erdbeben in Afghanistan alles verloren haben: Familienangehörige, Häuser, Kleidung, Nahrung. Sie haben absolut nichts mehr. Ich habe schon helfen können, dass sie Zelte und Kleidung bekommen, aber mehr schaffe ich nicht. Siehst du noch eine Möglichkeit?“ Gemeinsam kam uns dann die Idee für ein Projekt, um diesen Allerärmsten zu helfen. Später erfuhr ich, dass seine Frau keine finanzielle Unterstützung in ihrer Ausbildung bekommt. So ist ihr Monatsbudget sehr klein. Trotzdem haben die beiden alles hergegeben, was sie konnten.
P.M.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2024.
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