Hilfe annehmen können
Viele Menschen tun sich schwer, Hilfe anzunehmen.
Sie selbst sind oft sehr großzügig, wollen aber nicht unterstützt werden. Kann man das lernen? Oder gilt es, das einfach zu respektieren?
Johannes Wehr
Schulleiter, Memmingen
Es ist durchaus üblich, dass Menschen Schwierigkeiten haben, Hilfe anzunehmen. Dies kann auf verschiedene Gründe zurückzuführen sein, wie zum Beispiel Stolz, ein Bedürfnis nach Unabhängigkeit oder das Gefühl, anderen keine Last sein zu wollen.Dabei spielen individuelle Charaktereigenschaften, persönliche Erfahrungen, Erziehung und kultureller Hintergrund eine wichtige Rolle. Wer um Hilfe bittet, gibt etwas von seiner Autonomie auf und macht sich angreifbar und abhängig. Hier sind einige Gründe, diese Haltung zu überdenken und die Fähigkeit zu entwickeln, Hilfe anzunehmen. Gegenseitigkeit: Wer Hilfe annimmt, ermöglicht anderen, sich großzügig und unterstützend zu zeigen. Es fördert ein Gleichgewicht in zwischenmenschlichen Beziehungen.Selbstfürsorge: Sich Hilfe zu verweigern, kann dazu führen, dass man sich überlastet und gestresst fühlt. Unterstützung zu akzeptieren, kann Teil der Selbstfürsorge sein.Bindung und Vertrauen: Bedürfnisse zu teilen und Hilfe zu akzeptieren, kann zu einer vertieften Beziehung zu anderen Menschen führen.Ja, die Fähigkeit, Hilfe anzunehmen, kann entwickelt werden. Dabei ist es in Ordnung, auch nur scheinbar kleine Fortschritte zu machen und die eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu respektieren.
Andrea Hendrich
Familientherapeutin, Tutzing
Geben und Nehmen sind von jeher wichtige Prinzipien in unserem Miteinander. Bereits in der frühen Kindheit werden die Weichen dafür gestellt, ob wir mehr geben oder nehmen. Je nachdem, welche Erfahrung wir in unserer Familie gemacht haben, werden wir uns wohler fühlen, wenn wir geben oder eben nehmen können. Auch die Geschwisterkonstellation spielt dabei eine Rolle: Ältere Geschwister lernen zu geben und zu sorgen, während die jüngeren leichter nehmen können.Oftmals ist „Geben“ eher verbunden mit Stärke, Kontrolle und Eigenständigkeit, während „Hilfe annehmen“ mehr als Schwäche und Versagen empfunden wird.In meiner Beratungsarbeit darf ich Menschen immer wieder davon überzeugen, vorübergehend Hilfe anzunehmen. Ziel muss es immer sein, wieder in die eigene Kraft und Selbstständigkeit zu finden. Wenn der andere noch nicht für Hilfe bereit ist, gehe ich manchmal ein Stück des Weges – auch mögliche Umwege – mit ihm. Um Hilfe annehmen zu können, braucht es den richtigen Zeitpunkt, das Gefühl geschätzt zu sein und in der jeweiligen Situation möglichst viel Autonomie zu haben. Erst dann kann er die Entscheidung, Hilfe anzunehmen, wirklich bejahen. Diese Zeit muss ich ihm lassen – und auch die Freiheit, sich gegen Hilfe zu entscheiden. Denn nur in Freiheit kann Entwicklung geschehen.
Ulrich Busch
Psychotherapeut, Diez
Ein wichtiger Meilenstein in der Persönlichkeitsentwicklung ist es, autonom zu werden, also selbst Dinge angehen und entscheiden zu können, auch erste eigene Erfolge zu feiern. Das gute Gefühl, etwas vollbracht zu haben, bestärkt ungemein. Auch anderen zu helfen, gehört dazu; es ist für viele Leute beglückend und bestärkt die eigene Autonomie. Sich helfen zu lassen, scheint im Widerspruch dazu zu stehen: War man nicht tief überzeugt, alles selbst schaffen zu können? Aber nein: Auch Hilfe annehmen zu können, ist Teil des Reifungsprozesses. Wenn Menschen noch nicht so weit sind, sich helfen zu lassen, dann sollten insbesondere Angehörige das unbedingt respektieren.Oft lernen Menschen in Krisen, sich helfen zu lassen; Situationen, in denen sie erkennen, dass sie es allein nicht schaffen. Es erfordert Mut, sich anderen zu öffnen. Das können Menschen sein, denen man vertraut, die jedoch genügend inneren Abstand haben. Es ist besser, nicht erst dann Hilfe zu suchen, wenn man völlig ausgelaugt ist. Denn es kostet Energie, sich auf die Gedanken anderer einlassen. Nicht jeder Vorschlag muss blind angenommen werden; er ist nur eine Anregung. Hat man Hilfe annehmen können, kann man darauf oft sogar noch stolzer sein, als wenn man es allein geschafft hätte. Denn auch so wird die eigene Autonomie erweitert.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2024.
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