Völkermord
Bei Gräueltaten und Kriegshandlungen gegen Volksgruppen
wird schnell der Vorwurf eines Genozids laut. Wann ist der Begriff angemessen?
Seit wann gibt es den Begriff Völkermord?
Völkermord und Genozid bezeichnen den Versuch, eine bestimmte Menschengruppe auszurotten. Den Begriff prägte der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin 1944. Er bereitete die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ der Vereinten Nationen mit vor. Sie wurde 1948 beschlossen und bis heute von 153 Staaten ratifiziert.
Was sind die Kriterien für Völkermord?
Jede Handlung, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, gilt laut Konvention als Genozid. Das kann bedeuten, Mitglieder der Gruppe zu töten, ihnen schweren körperlichen oder seelischen Schaden zuzufügen, ihre Lebensbedingungen lebensgefährdend einzuschränken, Geburten zu verhindern oder Kinder zu verschleppen.
Nicht jedes Massenverbrechen ist Völkermord. Ausschlaggebend ist die Absicht, eine Gruppe zu vernichten. Keine Rolle spielt, wie viele Personen getötet und geschädigt werden. Ein großes Problem besteht darin, diese Absicht nachzuweisen.
Wer entscheidet rechtlich über Genozid?
Völkermord verjährt nicht. Staaten, Politiker und einfache Bürger können dafür in jedem Land angeklagt werden, das die UN-Völkermordkonvention ratifiziert hat. Können oder wollen Staaten Völkermord nicht ahnden, kann der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag den Fall untersuchen und strafrechtlich verfolgen. Während er sich mit individuellen Anklagen befasst, bearbeitet der Internationale Gerichtshof – das höchste Gericht der UN und auch in Den Haag ansässig – Völkermord-Anklagen zwischen Staaten. Auch Regierungen können einen Genozid als solchen anerkennen.
Welche Völkermorde sind international anerkannt?
Einige Beispiele: die systematische Ermordung der Juden wie der Sinti und Roma im Nationalsozialismus sowie der Armenier 1915/16 im Osmanischen Reich. Auch in der Kolonialzeit wurden Genozide verübt, darunter 1904 bis 1908 von deutschen Truppen im heutigen Namibia. Verurteilungen durch internationale Gerichtshöfe gab es unter anderem aufgrund des Völkermords 1994 in Ruanda und des Massakers von Srebrenica 1995.
Welche Interessen können hinter einem Völkermord-Vorwurf stehen?
Experten warnen vor einer inflationären Verwendung des Begriffs. Völkermord gilt als das „Verbrechen der Verbrechen“. Wer den Vorwurf eines Genozids erhebt, kann sich öffentlicher Aufmerksamkeit sicher sein. Damit stellt er den Angeklagten als Menschenrechtsverbrecher hin und setzt ihn international unter Druck.
Ist der Vorwurf berechtigt und wird der Genozid anerkannt, ist die internationale Gemeinschaft in der Verantwortung, der betroffenen Gruppe Hilfe und Schutz zu gewähren. Die Gruppe hat bessere Chancen zu überleben, Mut für die Zukunft zu schöpfen und wieder ihren Platz in der Völkergemeinschaft zu finden.
Clemens Behr
Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2024.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München.
Ihre Meinung interessiert uns! Schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.