15. Juni 2024

Die bei Regen Feuer macht

Von nst5

Heilpädagogin Cordula Kaumkötter auf der Suche

nach Balance – für sich und für andere.

Ein Samstagvormittag im April im Herzen von Münster. Cordula Kaumkötter hilft bei einem Flohmarkt zugunsten eines Sozialprojektes in der Ukraine mit. Zur Unterstützung hat sie eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen mitgebracht und Trommeln. Sie legen los. Mit einer brasilianischen Surdo Zylindertrommel, einer Marimba, die an ein Xylophon erinnert, und Conga, jener berühmten einfelligen Fasstrommel aus Kuba, verzaubern sie die Menschen mit südamerikanischen Rhythmen. Passanten bewegen sich spontan im Takt der Musik. Cordula Kaumkötter genießt Augenblicke wie diese im Schatten der Lamberti-Kirche. Sie weiß, wann es grooved. „Wenn alle, die mitmachen, auf der gleichen Welle schwingen, aufeinander achten und aufeinander hören, also gut im KonTakt sind.“

Alle Fotos: privat

Der Faszination der Musik kommt sie als Jugendliche auf die Spur, lernt 18 Monate Trompete, verdient sich alsbald ihr erstes Schlagzeug und bringt sich später das Trommeln bei. Früh entdeckt die Pädagogin bei ihrer Arbeit in einem Osnabrücker Kinderheim den „Fun-Faktor“, vom gemeinsamen Trommeln. Auch Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf in sozialer, emotionaler und geistiger Entwicklung sind mit von der Partie. „Das tut gut“, weiß sie aus Erfahrung. „Die Kids können sich ausprobieren, auf der Bühne stehen und sich als wertvoll erleben.“
Cordula Kaumkötter ist beruflich in einer Jugendhilfe-Einrichtung tätig, die – analog zu einer Familie – stationäre Gruppen mit sieben bis acht Kindern hat. Zudem hat sie über die „Videogestützte Familienarbeit“ Familien weiterhelfen können, ihre Stärken auszubauen. Kinder sind ihre Welt. „Ich möchte gerne für diese Kinder leben und ihnen Liebe schenken“, sagt die 60-jährige, die selbst kinderlos geblieben ist.

Aktuell ist sie für den Freizeit- und Förderbedarf verantwortlich. Hinter allem steht ihr Bemühen, dass die Kinder wachsen und ein stärkeres Selbstwertgefühl entwickeln können. Beispiel: Fahrrad-Führerschein machen oder Schwimmen lernen. „Jedes noch so kleine Positiverlebnis für ihren Lebensrucksack kann ihnen niemand mehr nehmen.“
Sie hat im Schwimm-Kurs auch manchmal Geflüchtete dabei, die große Angst vor Wasser haben, weil sie auf ihren Fluchtbooten Menschen gesehen haben, die untergegangen sind. „Wenn Kinder es schaffen, einige ihrer traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, aufblühen und sich selbst wieder mehr vertrauen, bewegt mich das sehr.“ So gelingt es auch einem Mädchen, die am ganzen Körper verbrüht worden war, ihren Freischwimmer zu machen.
Sich in Kindertagen – ohne Leistung – als wertvoll zu erleben, ist auch eines ihrer Themen. Genauer gesagt: Sie hat ihren in der eigenen Kindheit erlebten Mangel „mit Gottes Hilfe“, als Kraftquelle für andere entdeckt. Daher entschied sie sich, beruflich mit Kindern zu arbeiten, die unter herausfordernden Umständen heranwachsen müssen.
Mit 15 bereits stand ihre Entscheidung fest. Sie war jedoch für die Ausbildung zur Erzieherin zu jung. Die Wartezeit überbrückte sie mit einer Ausbildung zur technischen Zeichnerin im Maschinenbau. Nach der Lehre verdiente sie sich das Geld, mit dem sie ihre Ausbildung zur Erzieherin selbst finanzieren konnte.

In den vielen Jahren im Gruppendienst sind es immer die herausfordernden und verhaltensoriginellen Kinder, die ihr besonders am Herzen liegen. „Egal, ob die Kids voll von Aggressionen ihre Zimmer zerlegen oder schon mal Türen eintreten, wenn sie ihren Willen nicht bekommen: Ich versuche sie mit Gelassenheit in dem zu verstehen, was hinter ihrem Verhalten steht. Deshalb habe ich noch die Heilpädagogik- und Trauma-Fortbildung gemacht. Einmal hat ein Junge meine Brille zerbrochen. Ich nahm die Situation zum Anlass, auch für den Jungen eine neue Brille zu besorgen, da seine bisherige sehr alt war. Zu meiner großen Freude hat der Optiker diese Brille gesponsert. Sie wurde zum Symbol dafür, einander mit neuen Augen sehen zu wollen. Zu diesem inzwischen jungen Erwachsenen habe ich heute noch Kontakt, und er vertraut mir persönliche Sorgen an.
Sie ist mit Konflikt-Momenten vertraut, hat gelernt, Spannungen auszuhalten. Geduld zeichnet sie aus – „ein Geschenk von Gott“ – und ein innerer Kompass, der auf die „Kraft der Liebe“ weist. „Dafür“, so ihre Erfahrung, „sind alle Menschen früher oder später empfänglich und – ich fühle mich eben auch geliebt.“
Dieses Gefühl begleitet sie, seit sie als junges Mädchen in Augenblicken voller Sorge einen Ort für sich entdeckte, an dem sie Halt fand: die Kirche ihres Heimatortes im Osnabrücker Land. „Gott meine Sorgen hinhalten. Ihn um Hilfe bitten. Da habe ich erfahren, dass ich immer zu ihm kommen kann und er mich unendlich gernhat.“

Diese stillen Begegnungen stärken sie und lassen sie etwas wagen. In Ferienfreizeiten macht sie gerne Feuer. Sie nimmt dann Feuersteine mit. Die Kinder lernen, den Funken überspringen zu lassen und das Feuer in Gang zu setzen. Eines Tages war es wieder so weit. Es glimmt bereits, als der Nieselregen kommt. Nach und nach ziehen sich zuerst ihre Kolleginnen und Kollegen und dann die Kids in das warme Wohnzimmer zurück. Sie bleibt und hält die Flamme am Brennen, damit alle direkt wieder ans Feuer zurückkehren können, sobald der Regen weiterzieht.
Sie ahnte die Wirkung nicht, die diese Begebenheit auf ihre Kolleginnen und Kollegen haben sollte. Jahre später absolvierte sie mit vielen gemeinsam eine Zusatzqualifikation zur systemischen Familienberaterin. Bei einer Feedback-Runde war die Szene am Feuer plötzlich wieder Thema. Es gab Kritik, und es wurde persönlich.
„Sie haben das mit dem Feuer machen im Regen so gedeutet, als sei ich eine, die ständig mit dem Kopf durch die Wand wolle.“ Sie hält einen Moment inne. „Es war ungerecht. Es war, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegreißen.“
Sie brauchte länger, das zu verarbeiten. Ihre Supervisorin meinte später, sie sei für manche im Team zu stark. Seither bringt sie ihre Stärke anders ein. Statt in einer Gruppe zu arbeiten, ist sie nun neben dem Freizeit- und Förderbedarf auch für die Erlebnispädagogik verantwortlich und organisiert Zeltlager, Kanufahrten und Radtouren. „Alles Dinge, bei denen die Kinder wachsen können.“
Cordula Kaumkötter ist eine Vollblutpädagogin. Das zehrt an ihren Kräften. Also hat sie sich verschiedene Ladestationen zum Energietanken geschaffen. Zum einen ist da montags ihr Chor. Singen ist für sie „richtig wichtig“. Zum andern hat sie einige Familien, „wo ich einfach in Familie sein kann. Hier spielen wir oft Gesellschaftsspiele und ich gehöre einfach dazu – auch an Heiligabend.“ Außerdem hat sie sich einem Mehr-Generationen-Wohnprojekt angeschlossen. „Wir leben in dieser Siedlung als eine Art Großfamilie, kochen, spielen, arbeiten im gemeinsamen Garten zusammen und unterstützen uns gegenseitig.“

Geborgen fühlt sie sich zudem im Glauben. Dass da Energie für sie drinsteckt, entdeckte sie verstärkt im Jahre 1991. Ein halbes Jahr vor einer Fahrt zum Weltjugendtag ins polnische Tschenstochau lernte sie Leute aus der Fokolar-Bewegung kennen. Sie war noch auf der Suche, wie sie ihren Glauben in Gemeinschaft leben konnte, und wurde gefragt, ob sie die Fahrt der Jugendlichen mit tatkräftiger Hand unterstützen könnte. Auf dem Weg dorthin riss sie sich in Zakopane die Bänder. Allein ging es im Zug zurück nach Osnabrück. Operation und Krankenhaus. Die, die sich nach dem Malheur bei ihr meldeten, waren einige Leute, die sie über das Fokolar kennengelernt hatte. „Ich merkte, ich bin denen wichtig, die kümmern sich um mich.“ Später fragt sie Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, nach einem Wort für ihr Leben. „Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“ (Johannes 15,5), lautet die Antwort. Das gebe ihr seither Kraft und Zuversicht, sagt sie.
Ihr persönlicher Glaubensweg führt sie ins Zentrum des christlichen Glaubens – genauer gesagt zu einer Frau, die sie inspiriert und begleitet hat: Maria. „Ich möchte wie Maria leben, die Jesus in die Welt gebracht hat. Mir wurde bewusst, dass ich mit zweitem Namen Maria heiße. Das war für mich ein Zeichen. Irgendwann habe ich dann an mein Klingelschild ‚Cordula Maria‘ geschrieben.“
In einem Familiengottesdienst stellt sie ihre Erfahrung von einem Leben in Balance vor. Sie nimmt ein Prisma und schickt einen Lichtstrahl hindurch. Ein Regenbogen mit sieben Farben entsteht. Ein Symbol für sieben Lebensbereiche, die alle ihre Bedeutung haben. Bei ihr ist derzeit die Farbe Grün im Mittelpunkt, die für Achtsamkeit steht.
Achtsam auf sich selbst sein und offen für Schicksale von jungen Leuten, die es im Leben nicht so leicht haben, diese Haltung führte sie zu einer zwölfmonatigen Auszeit in die Dominikanische Republik, ein Land in etwa so groß wie Niedersachsen. Rund zwölf Millionen Menschen leben auf der Karibikinsel, die an Haiti grenzt. Die Amtssprache ist Spanisch.

Cordula Kaumkötter hilft an einer Schule mit. Bald fallen ihr die Kinder auf, die den Unterricht stören. Schnell war dann aus dem Munde mancher Lehrerinnen und Lehrer zu hören: „Du bist ein böses Kind.“ Die Aushilfslehrerin aus Osnabrück entgegnet: „Diese Kinder sind nicht böse. Sie tun Dinge, die nicht okay sind. Aber sie sind vom Wesen her wertvoll. Nur erleben sie sich nicht so.“
So setzt sie genau dort an. Da ist etwa Darling, der zu Hause unterversorgt ist, und wie ein Tiger durch die Klasse streift, anderen Kindern Sachen wegnimmt und nicht viel gelernt hat. Sie setzt sich neben ihn und hilft ihm, zur Ruhe zu kommen, gibt ihm Brot, wenn er hungrig ist und schenkt ihm aufmunternde Worte. Fast nebenbei fängt er an zu schreiben.
„Ich war dort wie ein weißes Blatt Papier. Mich kannte niemand. Es wusste keiner, was ich draufhabe. Alles, was sie mir am Ende an Wertschätzung geschenkt haben, war Folge meines gelebten Lebens.“
Das wünscht sie sich auch für die Menschen in der Fokolar-Bewegung. Früher habe sie dort mitunter ungute Bewertungen erlebt. „Dabei haben alle Menschen aus dem Blickwinkel Gottes den gleichen Wert. Er liebt uns alle.“
Was macht sie glücklich? „Glücklich sein kommt in meinem Wortschatz nicht vor.“ Glück ist nicht greifbar, sagt sie. „Ich beschreibe das eher mit voller Freude sein.“ Was sie froh mache, habe vor allem mit anderen Menschen zu tun. „Freude entsteht bei mir, wenn ich mit Menschen zusammenkomme und jede und jeder anders angefüllt wieder nach Hause geht als sie oder er gekommen sind.“
Sie unterstützt weiterhin die Schule in der Dominikanischen Republik. Zum Flohmarkt hat sie einen Aufsteller mit Fotos mitgebracht. Ein Ehepaar interessiert sich für ihre Arbeit dort. Am Ende fragen sie nach einer Kontonummer. Sie überweisen sieben Euro. Cordula Kaumkötter freut das. „Sie haben sich berühren lassen.“
Hubert Schulze Hobeling


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2024.
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