18. Juni 2024

Sommermärchen 2.0?

Von nst5

Offener Brief an Philipp Lahm

Foto oben: (c) Thomas Böcker/DFB

Sehr geehrter Herr Lahm!

In wenigen Wochen findet in Deutschland die Fußball-Europameisterschaft der Männer statt. Zwischen dem 14. Juni und dem 14. Juli wird es darum gehen, wer den aktuellen Europameister Italien beerbt. „United by football. Vereint im Herzen Europas“ lautet der zweisprachige Slogan des Turniers. Mit dem Motto „Heimspiel für Europa“ wirbt die deutsche Bundesregierung für dieses Sportereignis. Daran wird deutlich, dass es um mehr geht als „nur“ um spannende und schöne Fußballspiele.
Tatsächlich hat die Weltmeisterschaft 2006 gezeigt, welche emotionale und vereinigende Kraft der Fußball entwickeln kann. Als „Sommermärchen“ ist sie im kollektiven Bewusstsein der Deutschen gespeichert. Das damalige Motto „Zu Gast bei Freunden“ war kein leeres Versprechen. Deutschland zeigte sich als unerwartet herzlicher Gastgeber mit einer unverkrampften Liebe zum eigenen Land.
Und 2024? „Ein Sommermärchen 2.0 ist die Idealvorstellung“, meinte der deutsche Bundestrainer Julian Nagelsmann im vergangenen Herbst. Sie selbst sprachen in einem Beitrag für das Sportmagazin Kicker gar von einer „Zeitenwende“.
Auf Anhieb scheint mir das eine Nummer zu groß: Zu sehr haben sich sowohl der Fußball als auch Deutschland und Europa seit 2006 gewandelt.
Beim Fußball hat das vor allem mit Geld zu tun. Auf das „Sommermärchen“ selbst fiel ein Schatten wegen des Verdachts der Korruption bei der Vergabe. Aber auch sonst hat die Glaubwürdigkeit des Fußballs sehr gelitten: Beispielhaft seien die Vergabe von Weltmeisterschaften an Länder wie Russland, Katar und jetzt Saudi-Arabien, die nicht enden wollenden Korruptionsvorwürfe an den Weltverband des Fußballs (FIFA) und die Debatten um den Einstieg eines Investors in die Deutsche Fußball Liga (DFL) genannt.
Sie leugnen das nicht, halten dem aber im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (17.2.2023) entgegen: „Die Nationalmannschaft ist etwas anderes als der Vereinsfußball. Im Vereinsfußball wird alles immer größer, es ist dreimal so viel Geld im Spiel wie noch vor zehn Jahren, aber diese Entwicklung darf nicht automatisch für die Nationalmannschaft gelten. Ich finde, dass sich die Nationalelf der Logik des ewigen Wachstums entziehen muss.“
Gegen ein „Sommermärchen 2.0“ spricht auch die Stimmung in Deutschland und Europa. Rassismus und Antisemitismus zeigen sich inzwischen wieder ganz offen. Und die Aufbruchsstimmung von vor 20 Jahren (Stichwort EU-Erweiterung 2004) ist längst verflogen. Ganz zu schweigen von den Folgen von Krieg und Pandemie.
All das wissen Sie. Und bleiben unbeirrt: „Wir wollen die Gelegenheit nutzen, ein Turnier im Herzen des freiheitlichen Europas zu veranstalten. Wir wollen ein großes Fest feiern, bei dem alle willkommen sind, wir wollen unsere Werte zeigen und unsere offene Art zu leben.“
Es ist ein schmaler Grat. Übernimmt sich der Fußball? Und selbst wenn es tatsächlich wieder ein Fußballfest werden sollte: Schaffen wir die Übertragung vom Fußball auf das alltägliche Miteinander in Deutschland, in Europa und darüber hinaus? Ich wünsche es Ihnen. Ich wünsche es Europa. Eines ist dabei klar: Es liegt an uns allen – und zwar vor, während und nach der EM.

Mit freundlichen Grüßen
Peter Forst,
Redaktion NEUE STADT

Foto: (c) Thomas Böcker/DFB

Philipp Lahm wurde am 11. November 1983 in München geboren und ist einer der erfolgreichsten deutschen Fußballspieler. Mit Bayern München wurde er achtmal Deutscher Meister, gewann sechsmal den DFB-Pokal und 2013 die Champions-League. Von 2004 an spielte er 113-mal für die Nationalmannschaft, davon in 53 Spielen als Kapitän. 2014 wurde er mit Deutschland Weltmeister.
Seit 2007 fördert die Philipp Lahm-Stiftung benachteiligte Kinder und Jugendliche aus Deutschland sowie Kinder aus Südafrika in den Bereichen Bildung, Sport und Gesundheit.
2017 beendete er seine Karriere und ist seither unternehmerisch tätig. Philipp Lahm ist Turnierdirektor der Fußball-Europameisterschaft 2024.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2024.
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