5. August 2024

Abstand

Von nst5

Bitte Abstand halten. Dieser Aufforderung konnten wir in der Corona-Zeit nicht entgehen.

All überall haben Schilder, Leuchtstreifen und Banner dazu aufgefordert. Und es machte ja auch Sinn, auf Abstand zu gehen – um uns selbst und unsere Mitmenschen zu schützen.

Dass wir jetzt gern wieder zusammenkommen, Gemeinschaft genießen und diese auch feiern, das zeigte sehr eindrücklich der Katholikentag Ende Mai in Erfurt. Auch wenn er deutlich kleiner ausfiel als alle seine Vorgänger, die Freude darüber, einander zu stärken oder in größerer Gruppe zu beten und zu singen, war ein Charakteristikum der Tage. Manch einer sprach nachher von einer „Lagerfeuer-Atmosphäre“.
Gleichzeitig war das Treffen kein Rückzug auf eine „Insel der Seligen“, sondern lud zur persönlichen und gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit brennenden Themen unserer Zeit ein: Frieden, Klimawandel, Lebensschutz, Polarisierung und die Gefahren für die Demokratie. Mit ein wenig Abstand zum Alltag und in durchaus kontroversen Runden haben sich die Teilnehmenden bei Podien, Workshops, Konzerten und Ausstellungen diesen Fragen gestellt. Trotz der Tragweite so mancher Themen war die Atmosphäre in Erfurt nicht schwermütig, eher mutmachend.

Titelbild: (c) stellalevi (iStock)

Dieses Gefühl hat – zumindest bei mir – beim Blick auf die Ergebnisse der Europawahl einen enormen Dämpfer erfahren. Ich ertappte mich in den Tagen nach der Wahl dabei, dass ich immer noch mehr Nachrichten, Kommentare, Grafiken, Tabellen und Diskussionsrunden anschaute. Sicher, zunächst aus dem Wunsch, gut zu verstehen, was da passiert war, und um Bescheid zu wissen, dann aber auch ein wenig mit der irrationalen Hoffnung, dass es doch gar nicht so schlimm sein könne. Gleichzeitig machte sich Ernüchterung, Mutlosigkeit und fast ein Gefühl der inneren Lähmung breit. Irgendwie war ich in eine gewisse Sogwirkung geraten, hatte den Abstand verloren – alles andere als aufbauend.
Ja, mit dem Abstand ist es genauso wie mit der Selbstliebe, um die es in diesem Heft geht: zu viel ist ungesund, zu wenig aber mindestens genauso. Manchmal muss man sich – ganz bewusst – wieder ein wenig rausnehmen, auf Abstand gehen – innerlich und äußerlich -, damit dann wieder Nähe, Engagement und klare Sicht möglich sind.
Für manchen bringen die Sommermonate die Gelegenheit dazu mit sich: auf Abstand zum Alltag und – warum auch nicht – zu bedrückenden Fragen gehen, sich selbst etwas Gutes tun, die eigene Verwurzelung in sich (wieder) finden und stärken. Sie verstehen es deshalb sicher richtig, wenn ich Ihnen für die kommenden Wochen diesen Wunsch mitgebe: „Bitte Abstand halten!“
Gleichzeitig freue ich mich darauf, wenn wir uns dann – so gestärkt – wieder gemeinsam dem Alltag mit all seinen Fragen stellen,

Ihre
Gabi Ballweg


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2024.
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