5. August 2024

Braucht es uns noch?

Von nst5

80 Jahre nach ihrer Gründung steckt die Fokolar-Bewegung in einer Krise.

Was jetzt nötig ist.

Am 7. Dezember 2023 jährte sich zum 80. Mal das Gründungsdatum der Fokolar-Bewegung. Das internationale Leitungsteam beging den Jahrestag – eher schlicht – mit einer Wallfahrt zu geistlich bedeutsamen Orten: Assisi, Loreto, Rom. Den Fokolaren ist derzeit nicht zum Feiern zumute. 16 Jahre nach dem Tod der Gründerin Chiara Lubich (1920–2008) steckt die Erneuerungsbewegung vielmehr in einer veritablen Krise.
Vielerorts ist die Anfangsbegeisterung verflogen, Anhängerzahlen schwinden, Gemeinschaften überaltern, Formen und Einrichtungen aus der Gründungszeit erweisen sich als nicht mehr angemessen oder nicht mehr finanzierbar. Fälle von sexualisierter Gewalt und spirituellem Missbrauch und die damit einhergehende öffentliche Kritik haben die Bewegung erschüttert. Und nicht wenige Mitglieder fragen sich: „Braucht es uns noch? – Passen die Antworten, die wir zu geben haben, noch zu den Fragen unserer Zeit?“
War Chiara Lubich im Blick auf das 20. Jahrhundert noch davon überzeugt, dass „die Welt auf die Einheit zustrebt“ und dass „die Einheit ein Zeichen dieser Zeit“ sei, so gilt für das 21. Jahrhundert eher das Gegenteil: Wir erleben Aufsplitterung, Polarisierung und Abgrenzung sowie alte und neue Formen von gewaltsamer – persönlicher oder kollektiver – Selbstbehauptung. Im Großen wie im Kleinen zerbrechen Lebenswelten.
Mehr denn je bräuchte es also Kräfte, die zusammenführen. Doch die Vorstellung, man könne die Widersprüche auflösen und all das in Harmonie vereinen, was da überall auseinanderbricht, ist illusorisch. Widerspruchsfreie Einheit kann immer nur eine oberflächliche Einheit sein, weil sie die weiter bestehenden Unterschiede letztlich für eine Bedrohung hält.
Unsere Zeit braucht eine Spiritualität, die Räume schafft, in denen Zueinander und Auseinander gleichzeitig Platz haben, in denen sich Gemeinschaft und Eigenständigkeit gegenseitig bestärken, in denen sich Verschiedenes begegnen kann, ohne die Sorge, das Eigene zu verlieren.
Genau das ist im geistlichen Kern der Fokolar-Bewegung enthalten. Chiara Lubich hat ihre Spiritualität bisweilen als Medaille mit zwei Seiten zusammengefasst: Auf der einen Seite befindet sich „Jesus in der Mitte“, der für ein evangeliumsgemäßes Miteinander in gegenseitiger liebevoller und bedingungsloser Annahme steht. Auf der anderen Seite findet sich „Jesus der Verlassene“, der Gott der „Un-Einheit“, der in den Brüchen und Konflikten auf uns wartet und uns einlädt, in seiner Nachfolge Widersprüche auszuhalten und als verschwindende Vermittler Dialog zu ermöglichen.
Wenn sich die Fokolar-Bewegung auf diese beiden Kernelemente rückbesinnt, hat sie eine hochmoderne Botschaft und einen aktuellen Lebensstil anzubieten: einen Weg zum Miteinander, zum Eins-Werden, der Verschiedenheit nicht nur erträgt, sondern sie entfaltet; Formen von menschlicher Gemeinschaft, die Freiheit und Eigenständigkeit hervorbringen.

Illustration: (c) Alona Savchuk (iStock)

Um diese Botschaft zu vertiefen und als Lebensmodell zu entfalten, muss sich die Fokolar-Bewegung jedoch von vielem befreien: Hierarchische Leitungsformen, die sich aus der verfehlten Nachahmung der in ihrer charismatischen Art unnachahmlichen Gründerin Chiara Lubich entwickelt haben, sollten durch den Geist der Synodalität neu belebt und beseelt werden. Ein vielerorts noch bestehendes harmonisierendes Einheitsverständnis, das keine Widersprüche erträgt, muss Platz machen für Räume, die Gegensätzlichkeit aushalten und Vielfalt fördern. Ausgefeilte, aber zugleich undurchlässige Zugehörigkeitsformen, die oft mehr die Abgrenzung fördern, als der Entfaltung von Berufungswegen dienen, sollten beweglicher und durchlässiger werden, damit die Bewegung in Leuchtturmprojekten mehr Stoßkraft entwickeln kann. Der Einsatz, aus der Gründungszeit stammende Organisationsstrukturen aufrechtzuerhalten, ist in ein neues Gleichgewicht zu bringen mit dem, was heute an Formen unabdingbar ist, um die eigene Mission erfüllen zu können.
Hilfreich für eine solche Neuausrichtung wäre meines Erachtens ein entschiedenes und zugleich demütiges Zugehen auf all jene Personen, die in keiner Struktur der Bewegung ihren Platz gefunden haben, aber tief geprägt sind vom Charisma der Einheit und dem Wunsch, ihr Leben daran auszurichten. Es sind Menschen, denen – oft durch Gruppenzwang oder die persönliche Unreife Einzelner – Gewalt angetan wurde, weil sie nicht in die gängigen Schablonen passten. Sie haben ein Recht darauf, dass Vertreter der Fokolar-Bewegung aufrichtig um Vergebung bitten und deutlich machen, was sie aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Manche könnten dann endlich mit schmerzlichen Lebensabschnitten abschließen, andere warten nur darauf, auf ihre Weise und mit ihren Möglichkeiten „mitmachen“ zu dürfen. Und ihr kritischer, von falscher Verklärtheit befreiter Blick ist eine unschätzbare Ressource der Erneuerung.
Dazu gehört auch die neidlose und wertschätzende Begleitung neuer geistlicher Aufbrüche, die vom Charisma der Fokolar-Bewegung stark geprägt sind und den Geist der Einheit im Sinne von Chiara Lubich oft in ganz spezielle Bereiche der Kirche und der Gesellschaft hineintragen. Hier könnten sich auch auf institutioneller Ebene neue Formen der Zusammenarbeit ergeben.
Noch nicht auf breiter Front verwirklicht ist die seit vielen Jahren in der Fokolar-Bewegung propagierte „Option für die Jugend“. Es gibt viele hochmotivierte und hochqualifizierte junge Menschen in der Bewegung, die noch immer eher Gegenstand von Entwicklungsplänen sind, als dass sie diese selbst entwerfen, gestalten und verwirklichen dürften.
In meinen Augen sehr zu begrüßen wäre auch das Bemühen, das nicht mehr zu überschauende multimediale Erbe von Chiara Lubich auf wenige zentrale und unverzichtbare Kernstücke zu reduzieren, aber zugleich auf neue Weise zugänglich zu machen. Alles andere darf und soll Experten vorbehalten sein.
All diese Entwicklungen sind eine große Chance und bereits im Gange: manchmal erzwungen durch äußere Umstände und schmerzliche Einschnitte, die ein Weitermachen wie bisher nicht mehr erlauben, aber vielerorts auch als Frucht neuer Kreativität.
Die Fokolar-Bewegung hat eine Zukunft, wenn sie in Bewegung bleibt: nach innen, hin zu einer neuen Vergewisserung ihrer geistlichen Mitte, ihrer Kernbotschaft von der Einheit, die aus der Liebe zu Jesus dem Verlassenen erwächst; nach außen, hin zu den Rändern (auch der Bewegung selbst), wo eben dieser Jesus der Verlassene auf jene wartet, die sich ihm verschrieben haben und sich mit ihm in die Brüche unserer Zeit hineinstellen.
Joachim Schwind

Joachim Schwind ist Berater am Zentrum der Fokolar-Bewegung für den Bereich der Kommunikation. Der langjährige Chefredakteur der NEUEN STADT hat im April den Teilnehmenden der Leserreise das mittelitalienische Loreto gezeigt – ein Schlüsselort für die Berufung von Chiara Lubich und die Entstehung der Fokolar-Bewegung.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2024.
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