Krieg darf nicht normal werden
Warum ein gerechter Frieden und nicht der Krieg unser Ziel bleiben muss.
Als ich kurz nach dem Ausbruch von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine im Interview mit der NEUEN STADT gefragt wurde, wie ich den damaligen Ausruf einer „Zeitenwende“ beurteile, antwortete ich zurückhaltend. Heute würde ich Heribert Prantl folgen, der in seinem Buch „Den Frieden gewinnen“ diesen Begriff zur Beschreibung unserer kriegerischen Welt ablehnt, weil er nur eine ewige Ebbe und Flut von Gewalt und Terror und keine wirkliche Wende ausdrückt: „Die einzige Zeitenwende, die diesen Namen verdienen würde, wäre der Augenblick, in dem die Gezeiten der Gewalt ein Ende hätten, der Menschheitstraum sich erfüllte und der ewige Friede einkehrte.“
Warum ich mich hier Heribert Prantl anschließe, hat mit einem bedenklichen Meinungsumschwung zu tun, der in vielen Ländern Europas plötzlich wieder den Krieg als völlig normal ansieht. Bemühungen um den Frieden werden dagegen als realitätsfern belächelt. Diese Haltung ist gefährlich, weil sie vergisst, was Krieg im hochtechnisierten 21. Jahrhundert in Wirklichkeit bedeutet. Schon der deutsche Philosoph Immanuel Kant erkannte angesichts der Napoleonischen Kriege und den damit einhergehenden Anfängen der modernen Welt die Notwendigkeit, alles zur Abschaffung des Krieges zu tun, selbst wenn dieses Ziel niemals erreicht werden könnte. Die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts haben Kants Aufforderung durch die Millionen von Kriegsopfern mehr als bestätigt.
WELTUNTERGANGSUHR
Die Errichtung der Vereinten Nationen verdankt sich dem Bemühen, Kriege abzuschaffen. In der Charta der UNO ist daher auch ausdrücklich ein Gewaltverbot festgehalten. Der Zweite Weltkrieg endete mit dem Abwurf zweier Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, womit die moderne technische Kriegsführung einen tragischen Tiefpunkt erreichte. Als Reaktion darauf richteten führende Atomphysiker 1947 im „Bulletin of the Atomic Scientists“ die Weltuntergangsuhr ein, die einmal jährlich die aktuelle Gefahrenlage der Welt als Zeitspanne bis zur möglichen Selbstzerstörung der Menschheit anzeigt. 1947 stand der Zeiger auf sieben Minuten vor Mitternacht. Je nach Weltlage wurde er vor- oder zurückgestellt. Als die USA sich 1952 für die Herstellung von mit noch mehr Zerstörungskraft ausgestatteten Wasserstoffbomben entschied, zeigte die Weltuntergangsuhr zwei Minuten bis Mitternacht an. Nach dem Ende des Kalten Krieges konnte sie 1991 auf 17 Minuten zurückgestellt werden. In den letzten Jahren nahm die Gefahrenlage wieder dramatisch zu. Ein Grund dafür war der nun mitberücksichtigte Klimawandel, der dazu führte, dass 2020 die Zeit mit nur noch 100 Sekunden angegeben wurde. Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine steht der Zeiger sogar auf 90 Sekunden vor Mitternacht, die gefährlichste Weltlage seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Diese aktuelle Gefährdung der ganzen Welt müssen wir uns vor Augen halten, um den Irrsinn zu begreifen, dem wir nachgeben, wenn wir den Krieg wieder als völlig normal betrachten. Aktuelle Äußerungen von Politikern und Militärs sind besorgniserregend. So fordert der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius, dass Deutschland wieder „kriegstüchtig“ werden müsse. In Österreich ruft ein führender Vertreter des Bundesheeres dazu auf, das Land „kriegsfähig“ zu machen. Ein Militäranalyst betont in einem Interview mit einer österreichischen Zeitung, dass das Heer wieder „durch den Krieg“ und nicht mehr „durch den Frieden“ gedacht werden müsse. In derselben Zeitung wird das Buch eines deutschen Sicherheitsexperten gepriesen, das die These vertritt, dass der Krieg ein „immer wiederkehrendes Kontinuum“ sei. Zur Zeit von Kant konnte der deutsche Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz noch behaupten, dass der Krieg ein Mittel zur Fortsetzung von Politik sei. Wer aber im 21. Jahrhundert den Krieg noch als ein ganz normales Mittel versteht, riskiert die Katastrophe, vor der die Weltuntergangsuhr warnt. Gelingt es der Welt nicht, Kriege abzuschaffen, droht die Selbstauslöschung der Menschheit.
KEIN FAULER FRIEDE
Mein Aufruf zur Abschaffung von Kriegen ist aber nicht einem absoluten Pazifismus verpflichtet, denn es gibt Situationen, in denen nur mit militärischer Gewalt Widerstand geleistet werden kann. Schon der indische Friedenskämpfer Mahatma Gandhi bezeichnete den militärischen Widerstand Polens gegen die Übermacht des nationalsozialistischen Deutschlands als „fast gewaltfrei“. Vielleicht gilt das heute auch für den militärischen Widerstand der Ukraine. Wer den Frieden gegenüber dem Krieg bevorzugt, muss verstehen, dass Frieden nicht schon automatisch etwas Gutes ist. Imperiale Eroberer und andere Gewalttäter wollen ihren Frieden, unter dem dann andere Menschen leiden. Stehen Unterdrückte gegen einen solchen „faulen Frieden“ auf, werden sie als „Friedensstörer“ bekämpft, ins Gefängnis geworfen oder getötet.
Aus christlicher Sicht kann hier auf Jesus verwiesen werden. Er begehrte gegen einen faulen Frieden auf und wurde gerade deshalb ans Kreuz geschlagen. Viel zu oft wurde er als ein passiver Pazifist verstanden, der sich nicht dem Bösen widersetzte und sogar dazu aufforderte, Schlägern auch noch die andere Backe hinzuhalten. Der deutsche Soziologe Max Weber verstand ihn deshalb als Vertreter einer politisch unbrauchbaren Gesinnungsethik und nannte das Hinhalten der anderen Backe als Ausdruck einer „Ethik der Würdelosigkeit“. Damit hat er aber wie viele andere die Bergpredigt Jesu missverstanden, denn Jesus sprach vom Schlag auf die rechte Wange, die in einer rechtshändigen Kultur nur mittels der Rückhand ausgeführt werden konnte. Einer solchen demütigenden Geste trat er mit der Aufforderung entgegen, die andere Wange hinzuhalten, also einen Kampf auf Augenhöhe und zwischen gleichwertigen Gegnern zu führen. Als er selbst vor Gericht von einem Diener geohrfeigt wurde, hielt er daher auch nicht die andere Wange hin, sondern stellte diesen zur Rede.
Jesus steht für einen dritten Weg zwischen einem bloßen Hinnehmen von Gewalt und der Gefahr, sich vom Gegner in eine Gewaltspirale hineintreiben zu lassen. Sein Weg ist der Widerstand mittels aktiver Gewaltfreiheit, wie sie heute im Zentrum des Konzepts des gerechten Friedens steht, der zu Recht die alte Lehre vom gerechten Krieg abgelöst hat. Papst Franziskus ist heute einer der glaubwürdigsten Vertreter dieser Friedensethik, die die aktive Gewaltfreiheit als notwendige Ergänzung zu jenen Kriterien sieht, die die christliche Tradition zur Eindämmung möglicher notwendiger Gewalt entwickelte.
Wolfgang Palaver
Wolfgang Palaver war bis Oktober 2023 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Innsbruck und ist Präsident von Pax Christi Österreich.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2024.
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