Bei mir selbst anfangen
Warum fehlt es in unserer Gesellschaft an Respekt?
Was lässt sich dagegen tun? Wir fragen Tim Niedernolte. Der Fernsehmoderator hat sich in zwei Büchern intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt.
Herr Niedernolte, wo vermissen Sie Respekt gerade am meisten?
Wir hören uns zu wenig zu. Jeder verkündet lautstark seine Meinung, aber die der anderen interessiert, wenn überhaupt, nur am Rande. Respektlos ist es auch oft im Straßenverkehr, wie wir über Politik diskutieren und manchmal schon an der Supermarktkasse. Vor allem aber beim Zuhören. Die Argumente der anderen wahrnehmen ist eine Grundvoraussetzung, um respektvoll miteinander umzugehen. Würde ich zuhören, wüsste ich zumindest den Grund, warum der- oder diejenige so völlig anders denkt als ich. Aus Respekt ihn oder sie erst einmal anhören, das fehlt mir am meisten!
Was verstehen Sie unter Respekt?
In der lateinischen Ursprungsbedeutung stecken die Begriffe „Rücksicht“ und „Berücksichtigung“ drin, für mich die Basis für Respekt: Nicht nur für sich allein mit seinen eigenen Idealen und Sichtweisen durch das Leben gehen, sondern immer auch berücksichtigen, was rechts und links passiert: die anderen Menschen sehen.
Ist es bloß ein Eindruck, dass die Menschen weniger Respekt haben, oder eine Tatsache?
Beides. Durch unsere mediale Gesellschaft bekommen wir heute viel mehr Respektlosigkeiten mit. Handyvideos davon kursieren in den Sozialen Medien. Wir bekommen Beispiele über Computer und Fernseher frei Haus geliefert. Das führt zum Eindruck: viel mehr als früher! Aber schon die Geschichte ist voll von Respektlosigkeiten! Was neu ist: Früher hörten Streithähne bei Schlägereien auf, wenn jemand auf dem Boden lag und unterlegen war. Heute wird eher noch mal ohne Rücksicht ins Gesicht getreten oder zugestochen. Das ist mehr als nur respektlos! Es zeigt: Die Hemmschwelle ist gesunken.
Der Dauerkrisenmodus durch Corona-Pandemie, Inflation und Ukraine-Krieg trägt dazu bei, dass die Nerven schneller blank liegen und Tugenden wie Wertschätzung und Nächstenliebe einen schweren Stand haben. Das Stakkato dieser Krisen, deren Bewältigung immense Kraft erfordert, führt dazu, dass die innere Haltung bröckelt. Durchkommen, Geld verdienen, den Job nicht verlieren, mit den Kindern und den steigenden Energiekosten klarkommen: All die Sorgen trüben bei vielen den Blick für die anderen und lassen sie sich selbst der Nächste sein.
Sind alle gefährdet, davon angesteckt zu werden?
Das hängt von der inneren Haltung ab. Der Wertekompass, die Lebenseinstellung ist eine wichtige Grundlage, um mit Respekt durchs Leben zu gehen. Wer sich selbst Grenzen gesetzt und entschieden hat, dass er seine Nächsten wertschätzend behandeln will, hat einen hohen Antrieb, anderen mit Respekt zu begegnen, und negative Beispiele werden ihn nicht so schnell davon abbringen.
Sonst besteht jedoch die Gefahr, dass sie abfärben. Wenn beispielsweise einigen Politikern alle Mittel recht sind, sie die Wahrheit verdrehen und gut damit fahren, denken manche Menschen, dass sie es auch so machen können.
Aber auch positive Beispiele können abfärben. Bei der Fußball-Europameisterschaft der Männer griff eine neue Regel, die in anderen Sportarten längst üblich ist: dass nur der Kapitän einer Mannschaft sich beim Schiedsrichter über strittige Entscheidungen beschweren darf. Vorher hatten sich in solchen Fällen oft Pulks gebildet und viele Spieler den Unparteiischen bedrängt. Dieses Vorleben von Fairness hat jetzt positive Effekte auf Vereine, Kinder und Jugendliche.
Was gibt es noch für Gründe, dass der Respekt abgenommen hat?
Mir scheint, die Philosophie des Kapitalismus trägt dazu bei: schneller, höher, weiter, immer mehr, preiswerter, verfügbarer. Unser Wohlstand entsteht auf dem Rücken anderer. Hinter unseren günstigen Produkten stehen häufig Menschen, die dafür ausgenutzt werden und leiden. Hauptsache, wir haben ein schönes Leben! Kaum jemand fragt: Auf wessen Kosten? Mit welchen Folgen?
Die Natur mit ihren Rohstoffen wurde lange ausgebeutet. Das zeigt fehlenden Respekt gegenüber der Umwelt. Zwar gibt es endlich ein gewisses Einsehen, dass man mehr in Klimaschutz investieren, umdenken, bessere Konzepte für eine Kreislaufwirtschaft und mehr Nachhaltigkeit entwickeln muss, aber die Umsetzung dauert.
Respekt ist auch eine Frage der Erziehung. Vielleicht hat man ihn früher stärker hochgehalten. Andererseits haben sich Kinder nicht getraut, ihre Ansichten und Gegenargumente einzubringen. Erziehung lief rigoroser, vieles wurde unter den Teppich gekehrt oder handgreiflich „geklärt“. Mit dem Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche ihren Eltern und der Gesellschaft vermeintlich respektvoller begegnet sind, aber auf Wegen dazu gebracht wurden, die nicht respektvoll waren.
Fehlt es vielen Menschen an Selbstrespekt?
Mangelnder Selbstwert ist eine Wurzel des Problems. Wenn ich mit mir selbst hadere, frustriert bin und in vielen Problemen stecke, fehlt mir die Energie, anderen gegenüber Respekt zu zeigen. Mit sich selbst im Reinen sein ist der Nährboden und der Treibstoff, um anderen gegenüber aufmerksam zu sein und sich um sie zu kümmern. Die Basis muss immer sein, bei sich selbst anzufangen, so schwer das manchmal ist.
Haben Sie das durch die Beschäftigung mit dem Thema selbst gespürt?
Die Experteninterviews und Gespräche stellen mich immer neu vor die Frage: Wie sieht es denn bei mir selbst aus? Was mache ich morgens, wenn ich aufwache? Schaue ich aufs Handy und checke E-Mails oder kümmere ich mich zuerst um meine Familie? Oder: Im Fahrstuhl liegt ein Taschentuch auf dem Boden. Hebe ich es auf und werfe es in den Mülleimer oder überlasse ich das der Reinigungskraft? Schreibe ich mein Anliegen an einen Kollegen jedes Mal per E-Mail oder gehe ich vielleicht auch mal eben rüber in sein Büro und wechsle ein paar Worte mit ihm? So fordere ich mich immer wieder heraus. Bei solch banalen Beispielen fängt es an: Ich muss es vorleben! Was ich einfordere, mir wünsche, wo ich gern eine Veränderung hätte, muss bei mir selbst beginnen. Das Vorleben spricht deutlicher als jedes Interview oder Buch.
Wie ließe sich noch gegensteuern?
Den Mund aufmachen, wenn man eine Respektlosigkeit erlebt. Das kostet Überwindung. Wenn ich in Berlin Bus oder U-Bahn fahre, sehe ich durchaus viele, die anderen den Platz anbieten! Wenn man aber ein respektloses Verhalten mitbekommt, ausdrücken, dass man es nicht gut findet. Genauso in den Sozialen Medien bei Kommentaren oder im Chat. Das Denken überwinden: „Wie peinlich, wenn ich was sage! Was werden die anderen denken?“
Der Hass in den Sozialen Medien macht mir große Sorgen. Auf der anderen Seite können diese Medien auch ein Instrument sein, das dem Respekt Durchschlagskraft verleiht: Denn durch das Teilen von positiven Inhalten oder Aufmerksammachen auf Missstände kann ein Umdenken entstehen!
Auch Dankbarkeit ist ein guter Nährboden. Mit einer dankbaren Haltung ist man empfänglicher für Respekt, weil man nicht alles für selbstverständlich nimmt und einen besseren Blick hat für alles, was gut läuft im Alltag, und damit auch für die Mitmenschen.
Und nicht verzweifeln, wenn man sich bei einem Fehlverhalten ertappt! Der Respekt hat jeden Tag eine neue Chance. Das ist wie Schwimmen lernen, sich gesünder ernähren, mehr Sport machen: Das geht nicht von heute auf morgen. Man muss dranbleiben.
Sehen Sie Gesellschaften oder Gruppierungen, die ein Vorbild sind?
Vielleicht die asiatische Kultur, in Japan zum Beispiel. Da ist man respektvoller gegenüber der Natur, der Nahrung, aber auch den Mitmenschen. Man entschuldigt sich, wenn man eine Frage stellt oder etwas falsch gemacht hat: eine schöne, heilsame Haltung! Man möchte dem anderen nicht zu nahetreten. Das hat auch Nachteile, ist aber eine Kultur der Höflichkeit.
In den nordeuropäischen Ländern gefällt mir das positive Denken: das Beste aus einer Lage machen, dankbar sein und optimistisch. Diese Haltung hilft, respektvoll durchs Leben zu gehen.
An Kinder denke ich wegen ihrer Unverbrauchtheit. Auf dem Spielplatz geht es zwar auch nicht immer respektvoll zu: Wer anderen das Förmchen wegnimmt, bekommt schon mal eins mit der Schippe auf die Mütze. Zumal in einem Alter, wo Kinder die Grenzen noch nicht kennen. Aber ich habe oft beobachtet, dass spielende Kinder hinzukommende Personen problemlos einbeziehen. Unabhängig von der Hautfarbe oder Behinderungen. Die Andersartigkeit wird bemerkt und auch ausgedrückt, aber als gegeben hingenommen. Sie blockiert Kinder nicht! Diese Offenheit können wir uns von ihnen abgucken.
Ihr Wunsch?
Wenn wir Verhalten beobachten, das Menschen demütigt, verletzt oder gegen das Gesetz verstößt, sollten wir dagegen aufstehen. Ansonsten uns mehr bemühen, Unterschiede zu ertragen, religiös, politisch, vom Bildungsstand her: verschiedene Meinungen, Lebensweisheiten und -gewohnheiten aushalten. Sie können nebeneinander leben, solange es in den Grenzen bleibt, die wir uns als Gesellschaft gegeben haben. Über diese Grenzen müssen wir immer wieder neu diskutieren. Aber in ihrem Rahmen wünsche ich mir mehr Offenheit, Freiheit und Toleranz. Dann wären wir als Gesellschaft entspannter und glücklicher.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr
Tim Niedernolte
geboren in Bünde bei Bielefeld, ist ein deutscher Fernsehmoderator. Der 46-Jährige hat unter anderem bei Sky als Sportreporter und beim ZDF bei den Sendungen „logo!“, „drehscheibe“ und den „heute“-Nachrichten vor der Kamera gestanden. Aktuell moderiert er dort „hallo Deutschland“. Für RTLzwei hat er in der Langzeit-Doku „Das Berlin Projekt“ wohnungslose Menschen auf dem Weg in ein neues Leben begleitet. In zwei Büchern beschäftigt er sich intensiv mit den Themen Wertschätzung und Respekt.
www.timniedernolte.de
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2024.
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