4. Dezember 2024

Betont sachlich

Von nst5

Karin Bitzkowski

Foto: privat

Karin Bitzkowski, Jahrgang 1967, ist Fachärztin für Anästhesie und Allgemeinmedizin. Sie ist seit 30 Jahren regelmäßig als Notärztin in Augsburg und Umgebung mit dem Rettungsdienst unterwegs.


Aggressives Verhalten kam in bestimmten Kontexten immer schon vor, etwa an Bahnhöfen oder Plätzen, wo sich Drogenabhängige und Alkoholisierte aufhalten. Bei manchen Einsatzorten wird automatisch von der Leitstelle auch die Polizei alarmiert. Grundsätzlich sind wir auf solche Situationen vorbereitet. Aggressives Verhalten tritt aber immer häufiger auf, auch von einer Klientel, von der wir es nicht erwartet hätten.
Es ist eine schleichende Entwicklung. Auf den ersten Blick sind es nur „Kleinigkeiten“: Die Zündschnur wird ein wenig kürzer, das Anspruchsverhalten steigt, ein aggressiver, persönlich angreifender Grundton macht sich breit. Zum Glück eher selten, aber doch. Unsere Antwort? Verstärkte Sachlichkeit. Dabei helfen unsere „Algorithmen“: Schemata, nach denen wir die gesundheitliche Gefährdungssituation einschätzen und weitere medizinische Handlungen ableiten. Was die Gesamtsituation betrifft, treten Deeskalationstechniken in den Vordergrund; die Kommunikation wird sachlicher; ein Teammitglied versucht, Vertrauen aufzubauen und die Situation zu entspannen. Insgesamt versuchen wir, uns emotional abzuschirmen, Beleidigungen oder verbale Aggressionen abprallen zu lassen. Der Aufmerksamkeitslevel ist erhöht und man checkt die örtliche Situation: Welche Fluchtwege gibt es, liegen gefährliche Gegenstände in der Nähe, könnte die eigene Ausstattung – wie das Stethoskop um dem Hals – zur Gefahr werden? Wenn die Gefahr körperlicher Gewalt gegen das Team groß ist, ziehen wir uns zurück. Eigenschutz geht immer vor, auch wenn es die Gesundheit des Patienten gefährdet.
Ärgerlich ist, wenn wir von Menschen gerufen werden, die nicht zum Hausarzt gehen, keinen Termin beim Facharzt bekommen haben und nun gezielt versuchen, sich über den Notdienst eine Behandlung zu verschaffen. So manch einer ist nicht begeistert, wenn wir seine Wünsche nicht erfüllen, und reagiert mit Beleidigungen. Manch anderer hat die Schlüsselwörter gelernt, die eine weitere Behandlung obligatorisch machen.
Problematisch sind auch die Schaulustigen bei Einsätzen im öffentlichen Bereich. Das kann die Stimmung sehr aufheizen. Manche filmen und stellen es ins Netz, ohne dass der Kontext deutlich wird, oder muten den Usern damit Grausamkeiten – wie einen Suizid – zu. Sicherlich ist es für Verkehrsteilnehmer ärgerlich, wenn der Notarztwagen die Straße blockiert. Wir haben das im Blick, aber manchmal ist es nicht anders möglich und kann extrem aggressive Reaktionen provozieren. In den sozialen Medien wird das oft mit Kommentaren versehen, die grenzüberschreitend und unflätig sind. Da fehlen inzwischen einfach Hemmschwellen.
Ein für mich neues Phänomen sind gezielte, besonders schwere Übergriffe, bei denen alle, die eine Uniform oder Dienstkleidung tragen, als Teil eines Systems gesehen werden, mit dem manche Menschen nichts zu tun haben wollen. Das geht so weit, dass Polizisten oder Rettungskräfte an Silvester alarmiert werden, um sie dann mit Feuerwerkskörpern zu beschießen.
Zum Glück verlaufen die meisten Einsätze noch ohne größere Aggressionen und Störaktionen gegen uns. So können wir uns auf die Versorgung der Patienten und Betreuung der Angehörigen fokussieren.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2024.
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