Der andere bestimmt das Maß an Nähe
Im Gespräch mit Margaret Karram, Präsidentin der Fokolar-Bewegung
„Nähe“ ist der Schwerpunkt für die Fokolar-Bewegung in diesem Jahr. Präsidentin Margaret Karram erläutert, warum sie dieses Thema gewählt hat, was ihr besonders wichtig ist und wo Nähe ihre Grenzen hat.
Foto: (c) Javier Garcia / CSC Audiovisivi
Frau Karram, warum haben Sie „Nähe“ als Schwerpunkt für die Fokolar-Bewegung in diesem Jahr gewählt?
Ich habe mich gefragt, in welcher Welt wir leben. Da sind viel Einsamkeit und Gleichgültigkeit. Dann gibt es eine Eskalation der Gewalt, der Kriege, die immenses Leid über die Welt bringen. Außerdem habe ich über die rasante Entwicklung der Technologie nachgedacht. Sie verbindet uns in einer Weise miteinander, die wir bisher nicht kannten. Gleichzeitig aber führt sie zu Vereinzelung oder Abgeschlossenheit in der eigenen Blase. In einer solchen Welt – so meine ich – kann gelebte Nähe ein Gegenmittel sein; ein Weg, um diese Hindernisse zu überwinden und diese „Übel“ zu heilen, die uns voneinander fernhalten.
Wo können wir damit anfangen?
Seit Monaten stelle ich mir diese Frage selbst. Mir scheint, dass wir neu lernen sollten, auf die Menschen zuzugehen, sie alle als Brüder und Schwestern zu betrachten. Ich erkannte, dass ich zuerst meine eigene Haltung überprüfen musste. Sind die Menschen, denen ich täglich begegne, Brüder und Schwestern für mich? Oder bin ich ihnen gegenüber gleichgültig, betrachte sie vielleicht sogar als Feinde? Ich habe mir viele Fragen gestellt und dabei festgestellt, dass ich manchmal einer Person aus dem Weg gehen möchte, weil sie mich wahrscheinlich ärgern oder stören oder mir unangenehme Dinge sagen würde. Am Ende all dieser Überlegungen habe ich meine Gedanken zum Thema Nähe, die ich den Verantwortlichen der Fokolar-Bewegung Mitte November vorgestellt habe, folgendermaßen überschrieben: „Wer bist du für mich?“
Was sind die wichtigsten dieser Gedanken?
Ich greife vier von ihnen heraus. Zunächst: Die grundlegende Nähe für unsere Seele ist die zu Gott. Er selbst zeigt den Menschen seine Nähe – auch durch unser Mitwirken. Der Wunsch, den anderen zu lieben, ist eine Bewegung von Gott in mir zu Gott im anderen.
Ein zweiter Gedanke: Nähe ist dynamisch. Sie erfordert Offenheit, die vorbehaltlose Aufnahme von Menschen, das Einlassen auf ihre Sicht der Dinge. Wir sind nicht in Serie gemacht! Jede und jeder von uns ist einzigartig, was Charakter, Mentalität, Kultur, Hintergrund und Geschichte angeht. Das will anerkannt und respektiert werden und erfordert, dass wir unsere eigenen Vorstellungen zumindest für einen Moment hintanstellen können.
Was ist der dritte Aspekt?
Als dritten Aspekt möchte ich hervorheben, dass Nähe nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit Vertrautheit, mit Ähnlichkeit, mit Zugehörigkeit zum selben Kulturkreis. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37) bringt dies sehr gut zum Ausdruck. Ich bin beeindruckt von der Haltung des Samariters: Der Mann, der unter die Räuber gefallen war, war ihm unbekannt, er gehörte sogar zu einem anderen Volk. Er war sowohl von der Kultur als auch von der Tradition her ein Fremder. Aber der Samariter hat sich ihm als Nächster gezeigt. Das ist für mich der entscheidende Punkt! Nähe ist nicht eine Frage der Ähnlichkeit. Jeder Mensch hat seine eigene Würde, jenseits von Volk und Kultur, aus der er kommt, oder seines Charakters. Der Samariter hat sich nicht nur genähert, um zu sehen, ob diese Person verletzt ist, und ist dann weggegangen oder hat einen Krankenwagen gerufen. Er erwies sich als Nächster und kümmerte sich um die Person. Der vierte Aspekt …
… wäre …
… sich verletzlich zu machen. Damit Nähe Früchte tragen kann, sollten wir keine Angst haben, auch nicht die, dass der oder die andere uns verletzten könnte. Das kann bedeuten, sich in Frage stellen zu lassen, sich Anfragen auszusetzen, auf die man keine Antworten hat; bereit zu sein, sich verletzlich zu zeigen; sich vielleicht als schwach und unfähig zu präsentieren. Die Wirkung einer solchen Haltung kann überraschend sein. Stellen Sie sich vor: Ein neunjähriger Junge schrieb mir, dass Nähe für ihn bedeutet, „das Herz des anderen zu erheben“. Ist das nicht eine wunderbare Wirkung von Nähe? Das Herz des anderen erheben.
Was würde sich im Innenraum der Fokolar-Bewegung ändern, wenn dort auf gute Weise „Nähe“ gelebt würde?
Eine ganze Menge. Ich wünsche es mir, ich hoffe es und bete dafür. Aber ich möchte auch unterstreichen, dass sehr viele Menschen in der Fokolar-Bewegung Nähe leben. Wie viele Initiativen gibt es, wie viele Projekte für den Frieden und zur Unterstützung von Armen! Wir haben sogar Fokolare eröffnet, um Migranten zu helfen und sie willkommen zu heißen oder um die Natur zu schützen.
Und was müsste sich ändern?
Die Beziehungen zwischen den Menschen. Manchmal scheint es einfacher, Menschen von außerhalb gut zu behandeln als diejenigen, die zur „Familie“ gehören. Wir laufen Gefahr, dass wir unsere Beziehungen als wohlerzogene Menschen leben: Wir tun einander nicht weh, aber das ist nicht unbedingt Ausdruck einer authentischen Beziehung.
Ich hoffe also, dass Nähe über unsere Projekte hinaus zu einer täglichen Lebensweise wird; dass wir uns mehrmals am Tag fragen: Lebe ich diese Nähe? Wie lebe ich sie? Ein wichtiger Ausdruck von Nähe ist Vergebung: barmherzig zu sein mit anderen – und mit sich selbst.
Was bedeutet das im gesellschaftlichen Kontext?
Nähe ist nicht nur eine religiöse oder spirituelle Haltung, sondern auch eine zivile und soziale. In jedem Bereich ist es möglich, sie zu leben. In der Bildung zum Beispiel oder in der Medizin, sogar in der Politik, wo es vielleicht besonders schwierig ist. Wenn wir sie gut leben, können wir einen positiven Einfluss auf die Beziehungen nehmen, wo immer wir sind.
Und für die Kirche?
Die Kirche gibt es, weil Gott mit dem Kommen Jesu zu unserem Nächsten wurde. Die Kirche, die Kirchen sind also gerufen, Zeugnis von gelebter Nähe zu geben. Vor Kurzem ist in der katholischen Kirche die Weltsynode zu Ende gegangen. Ich habe an den beiden Sitzungsperioden im Vatikan teilnehmen können. Wir waren mehr als 300 Menschen, jede und jeder aus einer anderen Kultur. Was haben wir gemacht? Wir haben Synodalität eingeübt, wir haben geübt zuzuhören, die Gedanken, Herausforderungen und Sorgen der anderen in uns aufzunehmen. All dies sind Merkmale von gelebter Nähe.
Der Titel der Synode lautete „Gemeinsam unterwegs“. Sehr viele Menschen weltweit haben sich auf den Weg gemacht. Das Logo der Synode drückt den Wunsch aus, das Zelt der Kirche weit zu öffnen, damit sich niemand ausgeschlossen fühlt. Mir scheint, dass dies die wahre Bedeutung von Nähe ist: niemanden auszuschließen; dass sich alle willkommen fühlen, ob sie nun den Gottesdienst besuchen, ihren Platz noch nicht gefunden oder sich aus verschiedenen Gründen zurückgezogen haben.
Ich möchte kurz auf die Grenzen der Nähe zu sprechen kommen. Was heißt es, Nähe gut zu leben?
Eine wichtige Frage. Hat Nähe Grenzen? Spontan würde ich sagen, dass es keine Grenzen geben sollte.
Aber?
Wir können nie sicher sein, dass das, was ich unter Nähe und Solidarität verstehe, für die oder den anderen genauso gilt. In einer Beziehung darf es nie an Respekt für die Freiheit und das Gewissen des anderen fehlen. Diese beiden Dinge sind unerlässlich. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wenn wir uns einem Menschen nähern, dies immer behutsam und nicht aufdringlich tun. Die andere Person entscheidet, wie viel und welche Art von Nähe für sie gut ist. Sie bestimmt das Maß der Nähe!
Da gibt es einiges zu lernen, oder?
Und ob! Hier haben wir viele Fehler gemacht. In dem Glauben, dass wir den anderen lieben, haben wir ihn verletzt. Im Eifer, unsere Spiritualität weiterzugeben, haben wir die Freiheit des anderen nicht immer respektiert. Manchmal, so scheint mir, haben wir in der guten Absicht, einen Menschen zu lieben, ihn erdrückt. Wir hatten nicht genug Feingefühl und Respekt für das Gewissen des anderen, für seine Freiheit, für sein Zeitempfinden. Das hat zu Bevormundung und sogar Missbrauch geführt.
Wir befinden uns ohne Zweifel in einer äußert schmerzlichen Situation, in der die Opfer eine einzigartige Bedeutung haben. Denn ohne sie werden wir nicht gut genug verstehen, was geschehen ist. Es sind die Opfer, die uns helfen, die Fehler, die wir gemacht haben, zu verstehen und die notwendigen Schritte zu unternehmen, damit sich so etwas nicht wiederholt!
Haben Sie ein abschließendes Anliegen?
Ich hoffe, dass dieses Thema uns zum Kern dessen zurückführen kann, was Jesus selbst uns im Evangelium geschenkt hat. Er hat uns viele Beispiele dafür gegeben, was es bedeutet, Nähe zu leben.
Ein Gedanke von Chiara Lubich hat mich sehr angesprochen, als ich über dieses Thema nachdachte. Sie schrieb: „Es gibt Menschen, die etwas aus Liebe tun. Andere versuchen, in ihrem Tun Liebe zu sein. … Die Liebe stellt uns in Gott, und Gott ist Liebe. Die Liebe Gottes ist Licht, und in diesem Licht erkennen wir, ob wir einer Schwester, einem Bruder so beistehen, wie Gott es will, wie sie es wünschten und erträumten, wenn sie nicht uns an ihrer Seite hätten, sondern Jesus.“#1
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Peter Forst
1 aus: Chiara Lubich, Alle sollen eins sein, Neue Stadt 1999, S. 34

Margaret Karram, Jahrgang 1962, ist seit 2021 Präsidentin der Fokolar-Bewegung. Sie ist katholische Araberin und stammt aus Haifa (Israel). Karram absolvierte ein Studium der Judaistik an der Jewish University of Los Angeles (USA). Sie hat in mehreren Kommissionen mitgearbeitet, die den Dialog zwischen den drei monotheistischen Religionen fördern. Sie spricht Arabisch, Hebräisch, Italienisch und Englisch. 2013 erhielt sie zusammen mit der jüdischen Gelehrten Yisca Harani den „Mount Zion Award“ für ihr Engagement im Dialog zwischen Kulturen und Religionen.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2025.
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