7. April 2025

Die Vielfalt an Gefühlen ist ein Geschenk

Von nst5

Gefühle an sich sind nicht gut oder schlecht.

Wir sollten fein hinspüren, was sie uns sagen wollen, meint die Coachin und Autorin Friederike von Aderkas.

Foto oben: (c) Torsten Senst


Frau von Aderkas, ist es überhaupt sinnvoll, von negativen Gefühlen zu sprechen?
Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll. Gefühle sind erst einmal neutral. Jedes Gefühl hat eine Schattenseite und eine lichte Seite, aus der sich eine Aufgabe für uns ableiten lässt. Ich sehe ein Geschenk darin, die ganze Vielfalt an Gefühlen zur Verfügung zu haben.

Und doch haben viele Menschen verinnerlicht, dass es gute und schlechte Gefühle gibt. Warum?
Das hängt stark von Vorbildern ab. Wenn Eltern, Großeltern, Lehrer oder Vorgesetzte nicht wollten, dass bestimmte Gefühle ausgedrückt und damit sichtbar werden, dann verinnerlichen Menschen: „Dieses Gefühl sollte ich tunlich nicht haben“ oder „Wenn ich es zeige, hat das Konsequenzen“.

Welche Folgen hat das?
Die Gefühle sind damit ja nicht weg. Grob gesagt, gibt es zwei Reaktionen darauf, dass Gefühlsäußerungen nicht erwünscht sind: Man unterdrückt das Gefühl oder lebt es erst recht aus. Beides geschieht unbewusst. Und beides ist schädlich. Unbewusst und damit unkontrolliert ausgelebte Gefühle können großen Schaden anrichten, unterdrückte Gefühle aber auch. Wenn ein Mensch bestimmte Gefühle komplett abgespalten hat, dann fehlt ihm die Vielfalt und das Bunte, um auf eine Situation angemessen reagieren zu können.

Sind glaubende Menschen da besonders gefährdet?
So pauschal würde ich das nicht sagen. Wenn allerdings in einer Familie oder einer Gemeinschaft allzu enge Moralvorstellungen herrschen, kann das noch einmal verstärken, dass bestimmte Gefühle nicht erwünscht sind.
Wenn ich schaue, wie ich erzogen wurde, ging es viel um „Liebe deinen Nächsten“ und wenig um „wie dich selbst.“ Es ist wichtig, mein Gegenüber im Blick zu haben und einfühlsam zu sein. Aber es gibt den Punkt, wo es kippt: wenn ich nicht mehr weiß, was ich brauche und was mir dient.

Um welche Gefühle geht es vor allem?
Mir scheint es hilfreich, von vier Grundgefühlen zu sprechen: Freude, Wut, Traurigkeit und Angst. Freude folgt auf die Interpretation: „Das stimmt für mich.“ Wut auf: „Das stimmt für mich nicht.“ Traurigkeit auf: „Das ist schade.“ Und Angst auf: „Das ist schrecklich, furchtbar.“

Sie sagten, jedes dieser Gefühle habe eine Schattenseite, eine lichte Seite und eine Aufgabe. Welche sind das?
Die Schattenseite der Freude ist die Illusion, also die Gefahr, den Realitätsbezug zu verlieren. Ein frisch verliebter Mensch etwa empfindet die Partnerin oder den Partner als perfekt und muss dann später erkennen, dass auch sie oder er Fehler hat. Die lichte Seite der Freude ist die Anziehung und die Aufgabe ist die Wertschätzung. Da zieht mich etwas an, und ich kann die Freude nutzen, meine Wertschätzung auszudrücken für das, was da ist.

Bei der Angst …
… ist die Schattenseite die Lähmung; Situationen, in denen ein Mensch den Eindruck hat, nicht mehr handlungsfähig zu sein. Er erstarrt, kann die Angst nicht nutzen, sondern hofft nur darauf, irgendwie zu überleben. Die lichte Seite ist die Schöpfung und die Aufgabe die Kreativität. Sie hilft, auch in Momenten der Angst beweglich zu bleiben und sich zu fragen: „Was brauche ich jetzt, um aus dieser Situation herauszukommen? Was ist der nächste Schritt?“

Wie sieht es bei der Traurigkeit aus?
Bei der Traurigkeit ist die Schattenseite die Passivität. Die Passivität lässt einen Menschen nicht erstarren, sondern eher in sich zusammenfallen. Auch sie nimmt die Handlungsfähigkeit. Die lichte Seite der Traurigkeit ist die Liebe. Es geht darum, die eigene Liebe für etwas oder jemanden zu fühlen, das oder den man verloren hat. Das kann ein geliebter Mensch sein oder eine Arbeitsstelle. Die Liebe hilft, den Schmerz über etwas, das ich nicht ändern kann, zu fühlen, durchfließen zu lassen und in die Annahme zu kommen.

Und bei der Wut?
Bei der Wut ist die Schattenseite Zerstörung oder Gewalt. Die Lichtseite hingegen ist Klarheit. Sie hilft einem Menschen zu erkennen, was für ihn nicht stimmt. Der nächste Schritt ist dann, diese Klarheit für die Handlung zu nutzen, um nach Veränderung zu streben.
Dabei ist mir eines wichtig: Es geht nicht darum, um jeden Preis den eigenen Willen durchzusetzen! Es geht vielmehr darum, sich selbst ernst zu nehmen und in den zwischenmenschlichen Beziehungen deutlich zu machen: „Das stimmt für mich nicht, und ich stehe zu meiner Position.“ Dann ist es wichtig, offen zu sein, zu hören, was das Gegenüber als stimmig ansieht, und zu überlegen: „Wie finden wir eine gemeinsame Lösung?“

Müssen wir den Umgang mit den eigenen Gefühlen lernen?
Oh ja! Wir leben in einer Gesellschaft, in der unser Verstand, unser Intellekt, von klein auf gefüttert wird. Die Fähigkeit hingegen, Gefühle wahrzunehmen und in den Dienst zu stellen, wird häufig vernachlässigt. Deshalb ist es zunächst wichtig, die Angst vor den eigenen Gefühlen zu verlieren, die Farbpalette der Gefühle für sich zu öffnen. Dann gilt es, fein hinzuschauen und regelmäßig zu reflektieren: „Was habe ich den Tag über erlebt, und wie habe ich darauf reagiert? Fühle ich überhaupt? Oder versucht mein Verstand, alles zu erklären und allein mit der Vernunft zu regeln?“

Wie sieht dieses Hinschauen aus?
Eine Möglichkeit ist, abends ein Gefühlstagebuch zu schreiben. Aufzuschreiben: „Was habe ich heute erlebt? Habe ich ein Gefühl besonders stark wahrgenommen? Ist es vielleicht mein Lieblingsgefühl?“ Und auch zu fragen: „Hat mein Gefühl in der Situation gedient?“ Wenn nicht: „Welches Gefühl hätte denn gedient? War eher Wut statt Traurigkeit angebracht, weil es darum ging, auf Veränderung hinzuwirken, und nicht darum, etwas anzunehmen?“ Mit der Zeit entstehen durch bewusste Beobachtung neue Verknüpfungen im Gehirn, die uns neue Ausdrucksweisen und neue Wege ermöglichen.
Außerdem dient die Beschäftigung mit der Frage: „Wann im Laufe des Tages habe ich Energie gewonnen und wann verloren? Gab es Situationen, in denen ich aus der Beziehung mit meinem Gegenüber energetisch ausgestiegen bin?“ Wenn wir Gefühle unterdrücken, verlieren wir häufig Energie und Lebendigkeit. Dann kommt etwas ins Stocken und verhindert, dass wir lebendig in Kontakt mit uns selbst und den anderen sind.

Genau hinschauen heißt also auch unterscheiden zu lernen, was gerade dran ist?
Ja. In einer Situation, wo es darum geht, etwas anzunehmen, nützt es nichts, die eigene Wut auszudrücken und Veränderung erzwingen zu wollen. Dann stellt sich vielmehr die Frage: „Bin ich bereit, mich meiner Traurigkeit zu stellen? Kann ich ‚ja‘ sagen zu diesem Schmerz und auf positive Art und Weise kapitulieren?“ Oder umgekehrt: „Erkenne ich, dass in einer Situation nicht Traurigkeit angemessen ist, die zur Passivität führt, sondern Wut, die – bewusst genutzt – zur Veränderung beiträgt?“
Ein genauer Blick hilft aber auch, ein Gefühl frühzeitig einzuordnen. Dann ist es leichter, die lichte Seite zu erkennen und entsprechend zu reagieren.

Wie meinen Sie das?
Wut etwa beginnt schon damit, dass mich ein Fussel auf dem Pullover stört oder dass mir kalt wird. Weil das für mich nicht stimmt, nehme ich den Fussel weg oder schließe das Fenster. Wer in solch kleinen Dingen Klarheit gewinnt und entsprechend handelt, wird sich auch bei viel größerer Wut leichter tun, nicht laut und zerstörerisch zu werden, sondern erkennen, nach welcher Handlung die Wut ruft. Wir sind unseren Gefühlen nicht ausgeliefert, sondern sie weisen uns auf etwas hin.

Wie steht es um den Umgang mit den Gefühlen der Mitmenschen?
Ich beobachte, dass Menschen, die es gelernt haben, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und einzuordnen, deutlich weniger Mühe haben, den Gefühlen anderer gut zu begegnen.
Sie können in Situationen, in denen eine Person ihre Gefühle – auch durchaus heftig – zum Ausdruck bringt, ihr Herz öffnen und herausspüren, ob sie in Not ist oder sich nicht gehört fühlt. Es fällt ihnen leichter, Mitgefühl zu zeigen und zu fragen: „Was brauchst du?“ statt zu sagen: „Das ist falsch. Ich will das nicht.“

Und wenn der Gefühlsausbruch eines anderen bedrohlich ist?

Dann ist Selbstfürsorge gefragt, etwa mit Fragen an mich selbst wie: „Wo in diesem Raum möchte ich gerade sein? Ist es möglich, dass ein Tisch zwischen uns steht?“ Wenn ich sitze und mein Gegenüber steht, aufzustehen und so auf Augenhöhe zu kommen. Das unterstützt dabei, sich nicht erniedrigt oder schutzlos zu fühlen. Wenn es wirklich gefährlich wird, ist es angemessen und wichtig, den Raum zu verlassen.

Gibt es so was wie „gesellschaftliche Gefühle“?
Vielleicht nur ein Beispiel: Heute ist viel von einer „Empörungsgesellschaft“ die Rede. Ich beobachte aber, dass gar nicht so sehr Wut das gesellschaftliche Grundgefühl ist, sondern Angst. Viele Menschen haben Angst vor dem Unbekannten und vor Veränderung. Um diese Angst nicht fühlen zu müssen, ist es leichter, Wut und Empörung auszudrücken, als anzuerkennen: „Ich fühle Angst. Ich weiß nicht, wo bestimmte Strömungen hinführen. Ich wünsche mir Sicherheit.“ Hier sind zwei Dinge wichtig: Was brauchen die Menschen im Umgang mit ihrer Angst? Und: Wo wird die Angst gesellschaftlich ausgenutzt?

Vielen Dank für das Gespräch, Frau von Aderkas.
Peter Forst.

Foto: (c) Torsten Senst

Friederike von Aderkas,
geboren 1981, ist Diplom-Pädagogin,
Systemische Coachin und Autorin. Sie sagt von sich selbst: „Mich interessiert lebendige Präsenz im Hier und Jetzt. Die Wahrnehmung und der Ausdruck von Gefühlen sind ein klarer Teil davon. Ich strebe nach dem Ent- und Aufdecken der Kräfte, die jedes einzelne Gefühl birgt. Meine Aufgabe sehe ich darin, Menschen zu begleiten, sich ihre ureigenste Kraft zurückzuerobern.“ Friederike von Aderkas lebt im brandenburgischen Wiesenburg und bietet Seminare sowie Einzelbegleitung an.

www.friederikevonaderkas.com
www.wutkraft.de








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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2025.
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