Ein aufwühlender Monat
Offener Brief an Hanna Veiler
Foto oben: (c) Sharon Adler, www.pixelmeer.de
Sehr geehrte Frau Veiler!
Der Januar war ein aufwühlender Monat für Sie und die jüdische Community in Deutschland.
Da war zunächst das Abkommen zwischen Israel und der Hamas. Bei allen Fragen, die Sie an diese Vereinbarung hatten und haben: Es hat ermöglicht, dass zumindest einige Geiseln freikommen konnten, die mehr als 15 Monate in der Gewalt der Hamas waren. „Ich kann nicht aufhören zu weinen, und ich glaube nicht, dass alle die Bedeutung dieses Tages verstehen“, schrieben Sie am 19. Januar auf Instagram. „Aber heute empfinden so viele von uns zum ersten Mal einen Hoffnungsschimmer – ein Gefühl, von dem wir fürchteten, es nie mehr zu erleben.“ Mitte Februar, als diese Zeilen entstehen, geht das Bangen um die anderen Geiseln weiter. Werden auch sie freikommen – und wann?
Am 27. Januar folgte der Gedenktag an den Holocaust – 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz – und zwei Tage später die Gedenkfeier im Deutschen Bundestag. Am gleichen Tag fand ein von den Unionsparteien eingebrachter Antrag zur Migrationspolitik nur deshalb die Mehrheit, weil die Abgeordneten der „Alternative für Deutschland“ (AfD) zustimmten.
Am Tag nach der Abstimmung posteten Sie: „Unsere Erfahrungen nach dem 7. Oktober haben uns alle ein Stück nach rechts rücken lassen.“ Zu verletzend war der Antisemitismus von links nach dem Überfall der Hamas. Doch, so schrieben Sie weiter, „die Grenze war immer klar und bleibt es auch. Die strukturell antisemitische, offen rassistische und rechtsextreme AfD, die sich seit Jahren als ‚Judenretter‘ ausgibt, wird keinen von uns retten. Rassistische Migrationsdebatten werden früher oder später auch die jüdische Community, die zu 90% postmigrantisch ist, treffen. Am 27. Januar ‚Nie wieder‘ zu posten, um zwei Tage später mit Rechtsextremen gemeinsame Sache zu machen, ist unaufrichtig.“
Ja, es ist unbequem, was Sie schreiben und sagen. Manchmal könnte man auch denken: Muss sie so hart formulieren? Doch wer sich in das einzufühlen versucht, was Jüdinnen und Juden in Deutschland seit Langem und insbesondere seit dem 7. Oktober 2023 erleben und erleiden, kann nur sagen: Es ist mehr als nachvollziehbar! Alleingelassen von links, vereinnahmt von rechts, unverstanden von so vielen; Hass und Häme ausgesetzt, mit dem wachsenden Empfinden, heimatlos zu sein. Ebenfalls auf Instagram schrieben Sie schon am 10. Januar: „Solange Linke, Rechte und die Mitte mit dem Finger aufeinander zeigen und behaupten, Antisemitismus sei nur das Problem der anderen und nicht von einem selbst, so lange gibt es keine Zukunft für mich in diesem Land.“
Ihr Engagement umfasst viele weitere Aspekte: Sie fragen etwa, was das sowjetische Erbe für Jüdinnen und Juden bedeutet, stoßen Diskussionen zwischen verschiedenen politischen Richtungen in der jüdischen Community an und setzen sich für Frauen ein. Sie sind erst 27 Jahre alt und haben doch mehr erlebt, durchlebt und gekämpft als so mancher andere im ganzen Leben.
Ich empfinde große Hochachtung vor Ihnen. Ich habe viel zu lernen. Vor allem aber hoffe ich, dass es nicht leere Worte sind, wenn ich Ihnen im Namen unserer Redaktion zusichere: Sie sind nicht allein.
Mit freundlichen Grüßen,
Peter Forst,
Redaktion Neue Stadt

Hanna Veiler
wurde 1998 in Belarus geboren und kam 2005 mit ihrer Familie nach Deutschland. Nach einem Freiwilligenjahr in Israel studierte sie in Tübingen, Paris und Costa Rica Kunstgeschichte, Religion, Kultur und Friedensforschung. Seit 2021 gehört sie zum Vorstand der Jüdischen Studierendenunion (JSUD) und ist seit 2023 deren Präsidentin. 2024 wurde sie mehrfach ausgezeichnet: auf dem Kongress der World Union of Jewish Students als „Political Activist of the Year“, von der Europäischen Bewegung Deutschland als „Frau Europas“, und von der „Bundeszentrale für politische Bildung“ erhielt sie die Auszeichnung „Botschafterin für Demokratie und Toleranz“.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2025.
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