4. Juni 2025

Und er bewegt mich noch!

Von nst5

Hanns Dieter Hüsch

Am 6. Mai wäre der niederrheinische Kabarettist Hanns Dieter Hüsch hundert Jahre alt geworden. Seine Texte und Lieder haben uns auch heute noch viel zu sagen.

Illustration oben: elfgenpick (ChatGPT 40); starline (Freepik)

Die erste Begegnung des noch schüchternen Pennälers Clemens Schlüter mit Hanns Dieter Hüsch geht auf das Jahr 1972 zurück. Sein Deutschlehrer animiert ihn nach einem Liedermacher-Konzert im Studiotheater Bergkamen, auch einmal hinter die Bühne zu schauen. Hüschs Markenzeichen ist damals noch ein roter Rollkragenpulli. Er trägt schulterlange Haare und spielt auf einem schwarzen Konzertflügel seitwärts zum Publikum. Seine Mimik bekommt man daher nicht immer mit, doch in seinen vornehmlich als Sprechgesänge vorgetragenen Stücken schwingt eine gewisse Vollplastizität mit, die etwas in der Tiefe der Seele berühren.
Bis dahin hatte ich noch nicht erlebt, wie sehr Sprache Leben bedeutet und umgekehrt. Wir alle tragen Komödien und Tragödien in uns, die das Menschsein ausmachen. Je mehr wir uns der in uns schlummernden Kleinbürgerlichkeit bewusst werden, umso leichter können wir uns vom Starrkrampf unserer Sprache und somit unseres Denkens (er)lösen (lassen): Das Leben als Parodie seiner selbst.
Gesellschaftsironie und Aufdecken der Scheinheiligkeit, ja. Doch Hüsch lässt uns nicht nackt dastehen. Vielmehr gelingt es ihm mit einer schier unerschöpflichen Virtuosität, uns unsere Geschöpflichkeit spüren zu lassen. Mit seinem Relativieren des Drumherum und seiner selbst erschließt er uns die Möglichkeit, uns neu zu kleiden in der Liebe zum Mitmenschen, die bei ihm nicht zuletzt in der Liebe zu Gott zu gründen scheint. Was Hüsch bei allen Höhen und Tiefen seines Lebens als Künstler und Mensch bis zu seinem Tode auszeichnet ist stets seine Authentizität.1

TRÄUMEN UND ZUHÖREN
Geboren wurde er am 6. Mai 1925 in Moers am Niederrhein „zwischen schwarzweißen Kühen, Windmühlen und altersschwachen Bauernhäusern“. Seine Autobiographie beginnt mit den Worten: „Mein Leben verdanke ich meinen [verkrüppelten] Füßen“. Dieses Fußleiden hat nicht nur seine Kindheit nachdrücklich geprägt. Bis zu seinem 14. Lebensjahr muss er sich vielfach Operationen unterziehen, um schließlich doch richtig laufen zu können. Theatralik ist ihm schon früh eine Hilfe bei der Überwindung der zweifellos schmerzhaften Erfahrungen. Seinen Freunden ist er eher clownesker Beobachter denn Spielkamerad. In der heimischen Küche sitzend bleibt ihm viel Zeit zum Träumen und Zuhören.
So wird man schließlich Kabarettist: „zuhören, zugucken, aufschreiben, vortragen“. Darin liegt Hüschs Stärke. Seine Vorgehensweise führt die Ursache gesellschaftlicher Zu- und Missstände nicht auf abstrakte Theorien oder gar das Wirken einzelner „auswechselbarer Geschichtsbuchhalter“ zurück, sondern auf die alltäglichen Denk- und Verhaltensweisen vieler Menschen. Im Gegensatz zu den meisten anderen seiner Zunft orientiert er sich dabei nicht an tagespolitischen Seifenblasen.
 So mancher seiner Texte ist in seiner Zeitlosigkeit heute aktueller denn je. In seinem Märchen ‚Terra‘ aus dem Jahre 1952 schreibt er über den kranken Planeten: „und sprach nur noch ein merkwürdiges Gemisch aus Chinesisch und Amerikanisch“2. Heute müsste der Autor nur noch „Russisch“ einfügen.
Bereits 1972 beschreibt Hüsch in „Das Phänomen“ die Ursachen und Gefahren des immer wieder und besonders in unseren Tagen neu auflodernden Faschismus:

„Nur wenn wir eins sind überall
Dann gibt es keinen neuen Fall
Von Auschwitz bis nach Buchenwald
Und wer’s nicht spürt, der merkt es bald
Nur wenn wir in uns ALLE sehn
Besiegen wir das Phänomen
Nur wenn wir in uns Alle sind
Fliegt keine Asche mehr im Wind.“3

Mensch und Mass
Sein Grabstein zitiert ihn so:
„Ich habe immer versucht, die Erhabenheit der Bäume, die Unverwundbarkeit der Steine, die Vorurteilslosigkeit der Flüsse und die Gelassenheit der Tiere zu erreichen. Aber es ist mir nicht gelungen.“

Illustration: elfgenpick (ChatGPT 40); starline (Freepik)

Auf der anderen Seite der Stele heißt es: „Ich bin gekommen euch zum Spaß und gehe hin, wo Leides ist und Freude und wo beides ist zu lernen Mensch und Maß.“ So geschehen über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg mit 70 Bühnenprogrammen und zahlreichen Büchern und Tonträgern.
Auch während meiner langen Jahre in der sprachlichen Diaspora Japan bleibt Hüsch stets eine inspirierende geistig-geistliche Quelle, immer wieder belebt durch persönliche Begegnungen und Gespräche, wenn ich auf Heimaturlaub war.
Es ist wiederum in Bergkamen, als ich Hanns Dieter Hüsch, längst schwer gezeichnet von seiner Krankheit, ein letztes Mal auch auf der Bühne erleben darf. Erstaunlich, dass sein Publikum nicht mit ihm gealtert war, sondern auch jüngere Generationen gebannt von seiner Glaubwürdigkeit lauschen seinen Worten und seinen Akkorden auf der Orgel:

Ich setze auf die Liebe
Das ist das Thema
Den Hass aus der Welt zu entfernen
Bis wir bereit sind zu lernen
Dass Macht Gewalt Rache und Sieg
Nichts anderes bedeuten als ewiger Krieg
Auf Erden und dann auf den Sternen
Ich setze auf die Liebe
Wenn Sturm mich in die Knie zwingt
Und Angst in meinen Schläfen buchstabiert
Ein dunkler Abend mir die Sinne trübt
Ein Freund im anderen Lager singt
Ein junger Mensch den Kopf verliert
Ein alter Mensch den Abschied übt
Ich setze auf die Liebe
Das ist das Thema
Den Hass aus der Welt zu vertreiben
Ihn immer neu zu beschreiben
Die einen sagen es läge am Geld
Die anderen sagen es wäre die Welt
Sie läg‘ in den falschen Händen
Jeder weiß besser woran es liegt
Doch es hat noch niemand den Hass besiegt
Ohne ihn selbst zu beenden
Er kann mir sagen was er will
Er kann mir singen wie er’s meint
Und mir erklären was er muss
Und mir begründen wie er’s braucht
Ich setze auf die Liebe!
Schluss!
Gott schütze Euch
Gott schütze und befreie uns. 4

Bauchredner Gottes
Am 6. Dezember 2005 sitze ich mit meiner Frau Ryoko im Wohnzimmer. Aus Origami-Papier wollen wir 1000 Kraniche falten und dem großen Niederrheiner und ‚Bauchredner Gottes‘, aber auch irgendwie väterlichen Freund, zu Weihnachten ans Krankenbett schicken, als im Radio die Meldung kommt: Hanns Dieter Hüsch ist tot.
Er, der zeitlebens der evangelischen Kirche angehörte, in der er das ‚Lateinische‘ vermisste, hatte sich eine ökumenische Trauerfeier gewünscht. Die Kirche ist überfüllt. Auch zur Beisetzung im Ehrengrab in Moers sind alle Größen aus Kabarett und Comedy erschienen, die in ihm bis heute ihren Ziehvater sehen, sowie an die tausend Fans und Freunde.
Ich bin sicher: Nun sitzt er im himmlischen Cafè Pilatus, unterhält sich mit Jesus über „Gott und die Welt“ und unterbricht ab und an das Mühle-Spiel, um schmunzelnd auf uns alle, die sein Werk nicht vergessen lassen wollen, herabzublicken: „Wir sehen uns wieder!“
Clemens Schlüter

Clemens Schlüter ist Japanologe und „Hüschianer“. Er lebt in Werne an der Lippe und steht mit seinen szenischen Lesungen als Hommage an Hanns Dieter Hüsch auf Bühnen und in Kirchen.

1 vgl. mein Beitrag in: Malte Leyhausen (Hrsg): Hanns Dieter Hüsch zum 100. Geburtstag. Erinnerungen von Freunden und Bewunderern. ISBN 978-3-769327830
2 aus: Hanns Dieter Hüsch, Ich möchte ein Clown sein, Düsseldorf 2002, ISBN: 978-3-926512-48-2
3 zitiert nach: Gerd Laudert, Der fahrende Poet, Hanns Dieter Hüsch 1925-2005, Books on Demand 2022, ISBN: 9-783756-258109
4 aus: Hanns Dieter Hüsch, Das Schwere leicht gesagt, Freiburg im Breisgau 1994, ISBN 9-783451-042744
Die Rechte an den zitierten Texten liegen bei Christiane Hüsch-von Aprath.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2025.
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