4. Juni 2025

Wandel braucht langen Atem

Von nst5

Offener Brief an die Studentinnen und Studenten in Serbien

Liebe Studierende in Serbien!

Seit Monaten gehen Sie auf die Straße, demonstrieren friedlich. Ihr Einsatz für einen demokratischen Wandel ist beeindruckend, Ihre Ausdauer enorm!
Am 1. November 2024 brach das Vordach des Bahnhofs von Novi Sad zusammen, der zweitgrößten Stadt Serbiens. Dreißig Menschen wurden verletzt, sechzehn starben. Dabei war der Bahnhof erst im Juli nach dreijähriger Sanierung wieder in Betrieb genommen worden. Das Unglück riss Sie gleichsam aus dem Schlaf der Ergebenheit. In Ihren Augen steht es für die serbische Politik: so korrupt, dass Sie nicht einmal mehr angstfrei Bahn fahren können!
Die Reaktion der Regierung um Präsident Aleksandar Vučić: kleinreden und vertuschen; behaupten, das System funktioniere perfekt; Sie als radikale Studenten und die Proteste als vom Ausland gesteuert darstellen. Doch das befeuerte Ihren Protest erst recht! Sie demonstrierten für Rechtsstaatlichkeit und gegen Autoritarismus, besetzten Fakultäten an den Unis. Lehrer, Landwirte, Juristen schlossen sich an. Dem Regime nahestehende Personen griffen Demonstranten mit Baseballschlägern an, fuhren absichtlich mit Autos in die Menge. Dabei forderten Sie nur die Aufklärung des Unglücks, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und dass die Regierung die Gesetze befolgt.
Höhepunkt der Proteste war der 15. März in Belgrad, die größte Kundgebung der serbischen Geschichte. Zuvor waren Sie aus allen Himmelsrichtungen angereist, manche tagelang, zu Fuß, per Rad oder Traktor, hatten von Dorf zu Dorf Menschen mobilisiert. Inzwischen unterstützt Sie die Mehrheit der Bevölkerung, quer durch alle sozialen Schichten und politischen Überzeugungen.
Sie haben bewusst keine Anführer. So erschweren Sie es der Regierung, einzelne Personen zu verhaften, bloß- oder kaltzustellen. Stattdessen sind Sie basisdemokratisch organisiert; jede und jeder kann bei Entscheidungen mit abstimmen. Sie erfinden Slogans und Schlachtrufe, deuten Pop-Songs um, holen Friedenslieder vergangener Zeiten hervor und dichten Anti-Korruptions-Songs: So machen Sie dem System kreativ und clever Druck. Dabei ist Ihnen klar: So leicht tritt die Regierung nicht ab. Tatsächlich verschärfte Vučić den Ton: Man müsse ihn schon töten, um ihn aus dem Amt zu heben. Trotz allem bleibt Ihr Protest weiter friedlich. Selbst wenn staatliche Kräfte wie bei der Großdemonstration in Belgrad mit Schallkanonen Panik auslösen wollen.
Um die Lage zu beruhigen, ernannte der autoritär regierende Präsident Anfang April einen seiner Unterstützer, den politisch unerfahrenen Medizinprofessor Djuro Macut, zum Ministerpräsidenten. Er soll eine neue Regierung bilden. Ob das Parlament diese bestätigen wird, ist offen. Aus Vorsicht hatten Sie nie direkt den Rücktritt Vučićs gefordert. Nun aber wollen Sie eine Übergangsregierung, die faire Neuwahlen ermöglicht.
Von der EU erhoffen Sie sich Rückendeckung und wundern sich, dass Brüssel Vučić dagegen immer noch stützt. Sie vermuten, das Interesse der EU am Lithium-Abbau in Serbien stehe dahinter, den ein Großteil Ihrer Bewegung ablehnt. Die Enttäuschung ist verständlich. Lassen Sie sich davon nicht entmutigen! Behalten Sie Ihr Ziel im Auge, bleiben Sie Ihren Werten treu! Viele in  Europa stehen an Ihrer Seite. Auch wir.

Mit freundlichen Grüßen,
Clemens Behr, Redaktion NEUE STADT

Studentinnen und Studenten in Serbien
haben eine Welle des Protests und des Widerstands in ihrem Land ausgelöst. Seit Monaten demonstrieren sie friedlich für eine bessere Zukunft: gegen Bestechung, staatliche Willkür und Misswirtschaft und für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Inzwischen unterstützt sie dabei ein Großteil der Bevölkerung. Hohe Kirchenvertreter würdigen den Mut und die Entschlossenheit, für eine gerechte und faire Zukunft zu kämpfen, mahnen aber auch, gewaltlos zu bleiben.




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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2025.
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