15. Juli 2015

Mit Schwung ins „dritte Lebensalter“

Von nst1

Endlich Rente? Von wegen! Wenn die Kinder aus dem Haus sind oder die Berufszeit zu Ende geht, fallen viele Frauen und Männer erstmal in ein Loch.  Das Projekt „Schwungfeder“ in Augsburg bemüht sich, sie aufzufangen.

„Mit 55 hat man mich gegen meinen Willen aus der Firma entlassen. Und das hat mich sehr gekränkt.“ Hartmut Nitsche, Jahrgang 1939, war begeisterter Ingenieur, ging in seinem Beruf als Entwickler in der Datentechnik eines großen Konzerns auf. Es war in Deutschland die Zeit der großen „Freistellungswelle“: Frühverrentung sollte die Arbeitslosigkeit senken und jüngere Kräfte in den Arbeitsmarkt bringen; Betriebe „entledigten“ sich der 50- bis 55-jährigen Mitarbeiter. Die hatten zwar finanziell wenig Einbußen, aber menschlich große Probleme. Auch als Hartmut Nitsche Mitte der 1990er Jahre vor die Tür gesetzt wurde, war das, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen: „Es mag Männer geben, die sich freuen, endlich ihre Holzbank zimmern zu können. Aber die ist schnell fertig. Und dann fallen sie in sich zusammen.“

Etwa zur gleichen Zeit war auch Britta Eder in Neusäß bei Augsburg in einer persönlichen Umbruchphase: „Mein Mann war gestorben, ich hatte meine Mutter zu mir geholt und war auf der Suche. Ich wollte etwas zu tun haben.“

Hartmut Nitsche war in einem Kreis für frühzeitig aus dem Arbeitsleben entlassene Menschen gelandet, der von Gewerkschaften und Parteien unter der Ägide der Evangelischen Kirche in Augsburg eingerichtet worden war. Die Vorträge dort waren zwar interessant, ihm aber nicht hilfreich genug. So wandte er sich an die Verantwortliche, Monika Bauer. „Sie rief einen kleinen Kreis zusammen, zumeist Sozialpädagoginnen – ich war der einzige Ingenieur – und wir brüteten ein Konzept für die von der Entlassungswelle betroffenen Menschen aus“, erzählt Hartmut Nitsche.

Ein Orientierungskurs mit sieben bis zehn ganztägigen Einheiten sollte sie in ihrer Umbruchsituation abholen, ihre Talente entdecken lassen und die Kommunikationsfähigkeit stärken. In einer Schnupperphase konnten sie ehrenamtliche Tätigkeiten kennenlernen und entscheiden, ob sie sich engagieren wollten. Wenn ja, wurden ihnen dafür Qualifizierungsmöglichkeiten angeboten.

Die Initiative bekam den Namen „Schwungfeder“: „Zum Fliegen braucht der Vogel die Schwungfeder, ohne sie kann er sich nicht in die Lüfte erheben“, erläuterte Monika Bauer einmal das Augsburger Modellprojekt.

„Die Schwungfeder bringt aber auch die Mechanik einer Uhr in Gang, setzt Kraft frei. Damit ist ein Symbol gefunden, das den neuen Anfang, die Dynamik und den Freiheitswunsch dieser Lebensphase repräsentieren kann.“ Der erste Orientierungskurs startete 1997.

Britta Eder besuchte den zweiten Kurs im selben Jahr. „Das hat mir Selbstvertrauen gegeben und einen Domino-Effekt bei mir ausgelöst.“ Sie singt seitdem in einer Senioren-Kantorei und engagiert sich beim Projekt „Offene Kirche“: „Wir überbrücken die Mittagspause des Mesners in der evangelischen Anna-Kirche, damit sie durchgehend geöffnet bleiben kann.“ Britta Eder hat auch gelernt, neue Initiativen zu konzipieren, und davon eifrig Gebrauch gemacht: Sie gründete einen Gesprächskreis mit etwa zehn Frauen. Jede kann ein Thema vorschlagen und führt es dann selbst ein. Die anderen tauschen ihre Gedanken dazu aus. „Es geht sehr lebendig zu und ist immer spannend, was herauskommt. Der Kreis hilft uns, über den Tellerrand zu schauen“, erklärt Britta Eder.

In einem Seniorenheim in Neusäß hat sie ein Strickcafé ins Leben gerufen. Immer montags kommen rund dreißig Frauen zusammen. „Mein Hauptgedanke war auch hier, dass die Frauen miteinander ins Gespräch kommen. Entsprechend ist die Geräuschkulisse“, erzählt sie schmunzelnd. Was die einzelne Dame strickt, ist ihr überlassen. Vieles ist für einen Basar bestimmt und wird verkauft; der Erlös ist für das Heim. „Wir fertigen Socken an und Gratulationskarten mit gestickten Motiven. Aber der Renner sind FCA-Artikel, also mit dem Wappen des Augsburger Fußballclubs: Mützen, Schals, Stulpen. 8 000 Euro haben wir schon weitergeben können.“

Aus den Orientierungskursen sind viele weitere Initiativen hervorgegangen, weiß Klaus Lippmann, der früher Maschinenbau-Ingenieur war und zum Schwungfeder-Team gehört. Zum Beispiel das Projekt „Rotznase“, das heute beim Diakonischen Werk angesiedelt ist. Ehrenamtliche stehen hier zur Verfügung, wenn Kinder krank werden, deren Eltern beide arbeiten. Sie betreuen die Kinder und entlasten damit die Eltern. Eine Zeitlang wurden Clowns ausgebildet, um die Senioren in den Altenheimen zu unterhalten. Auch Patienten in Krankenhäusern brachte die Truppe zum Lachen. Sie hat sich jedoch nicht bis heute gehalten.

Helmut Nitsche bringt seine Computerkenntnisse in einem Internet-Café ein. Dort steht er mit anderen Ehrenamtlichen zu bestimmten Zeiten bereit, um ältere Herrschaften beim Benutzen von Computern zu beraten. „Besonders, wenn sie neue Geräte haben, tauchen natürlich Fragen auf. Aber wir helfen auch, wenn sie eine E-Mail-Adresse einrichten, eine Homepage gestalten oder eine Foto-DVD erstellen wollen, machen Kurse über das Schreiben mit dem Word-Programm, die Ordnung auf dem PC oder die Gefahren des Internets.“

Karin von Ciriacy aus Ottmaring hat jahrelang eine junge Frau mit seelischen Schwierigkeiten begleitet. Sich dazu durchzuringen, fiel ihr nicht leicht. „Gerade im psychiatrischen Bereich engagieren sich wenige. Es gibt viele Vorbehalte. – Ich war Anfang fünfzig, die Kinder im Studium, mein Mann arbeitete in Norddeutschland und kam nur am Wochenende nach Hause“, erinnert sie sich. Sie war in der evangelischen Gemeinde engagiert und dort auf den Flyer des Projekts gestoßen. Früher hätte Karin von Ciriacy gern Psychologie studiert. Dieses Interesse war noch nicht erloschen. „Ich wollte meine Zeit jemandem geben, um den sich niemand kümmert und der Unterstützung braucht.“ Mit der jungen Frau verbrachte sie mal eine halbe Stunde, mal einen ganzen Tag, unternahm Ausflüge, Radtouren, Besichtigungen. „Ich habe sie so in mein Leben genommen wie meine eigenen Kinder.“

Ein Lehrer schulte die Gruppe der Ehrenamtlichen in der Sozialpsychiatrie, begleitete sie, bot Weiterbildungen an. „Ohne seine hervorragende Vorbereitung hätte ich das nicht gemacht. Ich hätte ja gar nicht gewusst, wie ich mit der jungen Frau umgehen soll“, erzählt Karin von Ciriacy. „Auch der ständige Erfahrungsaustausch in der Gruppe mit der Möglichkeit der Supervision war wichtig.“ Die Schwungfeder ermöglichte ihr den Start in einen neuen Lebensabschnitt. „Das hat mir einen breiten Horizont eröffnet, der sich mir sonst nicht erschlossen hätte: Ich habe viel über das Menschsein erfahren mit allen Schatten- und Sonnenseiten“, reflektiert Karin von Ciriacy ihr Engagement. „Das war eine Ergänzung, die meinem Leben eine große Fülle gegeben hat. Ich bin der Verletzlichkeit des Menschen begegnet. Diese Erfahrung hat in all meine Beziehungen ausgestrahlt. – Andere Leute, die es sich leisten können, gehen in dieser Lebensphase auf den Golfplatz oder reisen in der Weltgeschichte herum. Aber so wäre ich nicht zum Wesentlichen gekommen.“

„Wir sollten auch etwas für uns selbst tun“, hat Britta Eder vor einiger Zeit eingebracht. „Nicht nur geben – es muss ein Gleichgewicht herrschen.“

Und wieder brach sich die Kreativität der Schwungfedern Bahn: Wander- und Radelgruppen haben sich gebildet, Englisch-Konversationskurse und Gruppen, die mit dem Bayern-Ticket Städtetouren unternehmen. Einmal im Monat ist Schwungfedertreff: Gemeinschaft wird gepflegt bei Kaffee und Kuchen, aber auch eine Synagoge besucht, ein Diavortrag gezeigt oder ein Referent zu einem bestimmten Thema eingeladen.

Das Augsburger Modellprojekt hatte in bis zu elf Städten Nachahmer gefunden: München, Memmingen, Kempten, bis hin nach Dortmund. Alle sind jedoch mittlerweile Einsparungen zum Opfer gefallen. In Augsburg, wo „uns die evangelische Kirche unter ihre Fittiche genommen hat“, wie Hartmut Nitsche es ausdrückt, konnte sich die Schwungfeder halten. Aber auch hier steht eine Neuausrichtung an. Jetzt steckt das Projekt selbst in einer Umbruchphase. Die Orientierungskurse wurden gerade eingestellt; es besteht kaum noch Interesse. In den letzten Jahren hat sich die Gesellschaft verändert, hat Klaus Lippmann beobachtet: „Es gibt weniger Frauen, die ihr Leben lang zu Hause bei den Kindern sind. Die Menschen scheiden nicht mehr so früh aus dem Berufsleben aus. Und wer mit 65 in Rente geht, ist nicht mehr so erpicht auf Ehrenamt oder Bürgerarbeit wie mit 55. Auch körperlich ist man dann nicht mehr so vital.“ Wer doch noch etwas für andere tun will, legt sich nicht fest. So ist das Schwungfeder-Team dabei, über ein neues Konzept nachzudenken, mit dem es wieder mehr Menschen erreichen kann.
Clemens Behr

www.schwungfeder.de

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2015)
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