20. Januar 2015

Sensibel für innere Nöte

Von nst1

Wenn Christa Großehambrinker aus Münster auf wohnungslose oder seelisch angefochtene Menschen trifft, weicht sie nicht aus. Sie hat selbst leidvolle Lebensphasen durchlebt.

Es war am Morgen vom Heiligabend. Christa Großehambrinker, 69, war aus Münster für ein paar Tage zur Familie ihrer Tochter nach Berlin gefahren. „Du, Mama, hier sind acht Jutesäckchen. Kannst du die mal füllen?“ Der Bitte ihrer Tochter kam sie gern nach. Die zweijährige Enkelin half ihr, Mandarinen, Nüsse und Süßigkeiten in die vorbereiteten Säckchen zu packen. „Das machte der Kleinen Riesenspaß: Wenn etwas daneben fiel, hat sie sich kaputtgelacht“, erzählt Christa Großehambrinker. Sie verschnürte die kleinen Beutel mit roten Bändchen und steckte kleine Tannenzweige daran.

Noch am Vormittag machten sich Vater, Mutter, Sohn und Töchterchen samt Oma Christa auf den Weg in die Fußgängerzone. Mit den Jutesäckchen wollten sie Wohnungslosen eine Freude machen. Einen Spielplatz unterwegs konnten die Kinder nicht einfach links liegen lassen; so wurde eifrig gespielt und getobt.

„Die Kinder sind ausgepowert“, erklärte Christas Tochter schließlich.

„Kannst du nicht allein zu den Nichtsesshaften gehen und die Beutel verteilen?“ – „Was?“, dachte Christa, „Ich alte Frau?“ Andererseits war die kleine Aktion schon länger geplant und eine tolle Idee. „Da hab ich das übernommen“, erzählt sie heute.

Die Fußgängerzone war voll! Überall vorweihnachtlicher Trubel. Christa setzte sich neben den ersten Obdachlosen und überreichte ihm ein Päckchen. „So etwas Schönes! Für mich?, fragte er. Da hab ich ihm von der Familie erzählt, die an ihn gedacht – und wieviel Freude ich mit der Enkelin beim Einpacken gehabt hatte. Ihm standen fast die Tränen in den Augen. Und für mich war es gar nicht mehr so schwer, mich auf die unerwartete Aufgabe einzulassen.“

Auch der zweite Wohnungslose strahlte. Einige Passanten wurden aufmerksam. „Als ich dem dritten ein Säckchen überreichte, klatschten die Leute sogar!“ Christa ging auf einige Punker mit verschlissener Kleidung und bunten Haaren zu. Sie reagierten sehr freundlich und dankbar, dass jeder ein kleines Geschenk bekam. „Da bin ich glücklich zur Wohnung meiner Tochter zurückgekehrt: Ihre Familie hatte fremden Menschen mit kleinen Gesten viel Freude gemacht und mir gezeigt, dass Weihnachten auch anders aussehen kann, als ich es gewohnt war.“

Christa hat schon immer ein Herz für Menschen in Not bewiesen. In Münster geht sie regelmäßig zum Gottesdienst in den Dom, vor dessen Portal häufig Bedürftige sitzen und die Hände aufhalten. „Oft wechsele ich einige Worte mit ihnen“, erzählt sie. „Wenn ich Besuch bekomme und mich mit ihm am Dom verabrede, beziehe ich sie auch schon mal mit ein, wenn ich schnell noch etwas erledigen muss: ‚Wenn Sie meine Besucher sehen, die so und so aussehen, sagen Sie ihnen doch bitte, dass sie in einer halben Stunde wiederkommen sollen!’“

Bei den Gottesdiensten war Christa ein Mann zwischen 30 und 40 Jahren aufgefallen. Er saß immer hinten an einem Pfeiler. Eines Tages gab sie sich einen Ruck und setzte sich nach der Messe zu ihm in die Bank. Er war erstaunt, dass ihn jemand ansprach. „Dann hat er seine Lebensgeschichte erzählt: Dass er von seinem Vater nie Anerkennung bekommen hatte, nicht einmal, als er seine Lehrlingsprüfung bestand. Der habe ihn immer nur schlecht gemacht:

Du taugst nichts! So habe er auch mit seinen Geschwistern gebrochen und lebe auf der Straße.“

Das Verhalten des Vaters sei sicher aus dessen Geschichte heraus zu verstehen, sagte Christa dem Mann. Es würde ihm bestimmt gut tun, sich trotz allem mit seinem Vater zu versöhnen. Tatsächlich ließ sich der Mann auf eine Begegnung mit dem inzwischen gebrechlichen Vater ein. Der zeigte nach einer Aussprache tiefe Reue für sein früheres Verhalten, wollte seinem Sohn jetzt sogar sein Haus vermachen, weil er selbst in ein Pflegeheim musste. „Was soll ich damit? Ich lebe auf der Straße und soll plötzlich Hausbesitzer werden? Ich will das nicht“, sagte der Mann, als er Christa vom Wiedersehen mit seinem Vater berichtete. „Merken Sie nicht, dass der Vater etwas wiedergutmachen will? Er will Ihnen Gutes tun“, erklärte Christa ihm. „Wenn Sie ablehnen, ist das ein Affront. Nehmen Sie dagegen an, ist das eine Geste echter Liebe zu Ihrem Vater. Sie müssen das Haus ja nicht selbst bewohnen.“ Wofür sich der Mann letztlich entschied, weiß sie nicht. Einige Zeit später erschien er nicht mehr im Dom.

Seit vierzig Jahren macht Christa Urlaub in Grömitz an der Ostsee. Als sie wieder einmal für ein paar Tage dort war, traf sie eine ältere Dame wieder, der sie schön öfters begegnet war. „Ich bin jetzt 92“, klagte diese, „und behalte nichts mehr im Kopf!“ – „Das macht doch nichts“, munterte Christa die Dame auf. „Überlassen Sie das Erinnern den Jüngeren. Wir Älteren dürfen ruhig etwas vergessen.“ Sie kamen ins Gespräch. Nach einer Weile vertraute die Frau ihr an: „Wissen Sie noch, als ich ganz am Ende des Landungsstegs saß und Sie sich zu mir gesetzt haben? Dass Sie mich angesprochen und nachher noch zum Mittagessen und Kaffeetrinken eingeladen haben? An dem Tag wollte ich mir das Leben nehmen.“

Christa erinnerte sich. Das muss vor vierzehn, fünfzehn Jahren gewesen sein, nachdem ihre Mutter gestorben war. Von den Selbstmordgedanken der Frau hatte sie nichts geahnt. Aber offenbar hatten die Brüche in ihrer eigenen Biographie sie sensibel für die innere Not der Mitmenschen gemacht. Brüche wie die Scheidung von ihrem Mann, die Christa in eine tiefe Glaubenskrise geführt hatte:

„Danach bin ich aus der Kirche ausgetreten, weil ich einfach nicht mehr glauben konnte. Das Reden von Gottes Liebe hab ich nicht mehr ertragen.”

Es folgte eine große Suche nach etwas, das ihrem Leben wieder Sinn gab: „Wer weiß, wo überall, bis hin zu den Buddhisten. Von Herzebrock, wo wir wohnten, bin ich dafür über vierzig Kilometer bis nach Bielefeld gefahren, habe dafür zeitweilig meine Töchter allein gelassen, die neun und dreizehn waren.“ Auf einer Reise nach Assisi kam Christa innerlich wieder zur Ruhe, nahm vieles rund um den Glauben ganz neu auf, traf später überzeugend lebende Christen – bis sie wieder in die Kirche eintrat.

1998 durchlebte sie auch beruflich eine düstere Phase. „In der Möbelfabrik meines Bruders mit zweihundert Mitarbeitern war ich im Lohnbüro. Jeden kannte ich persönlich mit seiner Lebensgeschichte!“ Nachdem der Bruder das Unternehmen verkaufen musste, wollte der neue Inhaber sie hinauskicken. Jeder Vorwand war ihm recht, sie vor der versammelten Geschäftsleitung schlecht zu machen. Das setzte Christa zu. Sie hatte Bindeglied zwischen dem neuen Inhaber und den Mitarbeitern sein wollen; jetzt aber fühlte sie sich ungerecht behandelt und gemobbt: eine schwere Zeit! Die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle führte sie zu einer völlig anderen Aufgabe: als Haushälterin von Bischof Reinhard Lettmann in Münster. Aber was sie dabei bis über dessen Tod im April 2013 hinaus alles erlebte, ist eine andere Geschichte.
Clemens Behr

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar-Februar 2015)
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